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# taz.de -- Die Wahrheit: Deutschland ist geil
> Von jungen Menschen kann man es lernen: Der eigene Patriotismus lässt
> sich am besten am schlechten Beispiel anderer Länder entfachen.
Bild: Proteste gegen Viktor Orbans neues Hochschulgesetz in Budapest
Die jungen Leute interessieren sich nicht mehr für ihr Land, entnimmt man
den Medien. Sie denken global, stromern von Kontinent zu Kontinent und
scheren sich keinen Deut um albern-gestrige Nationalitätengebilde. Das ist
natürlich nicht wahr. Letzte Woche hörte ich in der Bahn eine feurige
Diskussion zwischen drei pickligen Schülerinnen. Ein pausbäckiges Mädchen
mit Rastazöpfen riss plötzlich die Arme hoch und rief inbrünstig: „Nein,
Deutschland ist das geilste Land! Erstens: kein Krieg. Zweitens: keine
Umweltkatastrophen. Und drittens: keine Typen, die dir an den Arsch
packen!“
Auch eine Möglichkeit, sein Land zu betrachten. Super Sichtweise! So super,
dass man übel Lust bekommt, die Liste zu erweitern. Dass man aufstehen, die
Brust recken und ausrufen möchte, dass es noch von den Schwarzwälder
Berggipfeln hallt: Und viertens: keine Wüste! Und fünftens: keine irren
Psychopathen in der Regierung, jedenfalls nicht so viele. Und sechstens:
keine Drogenkriege, außer auf den Herrenklos der Deutschen Bank.
Und siebtens keine dunklen, nie enden wollenden, lappländischen Winter. Und
achtens kein französisches Bier. Sowie neuntens keine unterdrückten
Ureinwohner ohne Zugang zur Bildung, abgesehen von den paar traurigen
Emsländern. Und lässt man zehntens, elftens und zwölftens den Blick über
die lieblich wogende Ostsee schweifen: kein Weißer Hai, kein Ölteppich, der
sich bis zum Horizont erstreckt, und nicht ein einziger verdurstender
Flüchtling in einer übervollen Nussschale. Sowie – dreizehn und vierzehn –
weder Blutrache noch staatlich verordneter Terror, außer ein bisschen in
Bayern.
Und wem jetzt noch dieses Land nicht für immer und ewig ans Herz gewachsen
ist, wer jetzt noch naiv „Macht aus dem Staat – Kartoffelsalat!“ skandiert
oder „Hitler ist tot, Kohl ist krank, Deutschland verrecke, es lebe der
Punk!“, dem sei in nüchtern-sachlichem Tone gesagt: und fünfzehntens keine
sieben grammatischen Fälle wie das verrückte Polnische!
Und obendrein: kein Guantánamo. Kein Fukushima. Kein Columbine und kein
algenvermatschtes Venedig. Kein Viktor Orbán, kein Donald Trump, kein David
Cameron, kein dreckiges Bankengeheimnis und keine rebellierende
Unterschicht, auch wenn es vermutlich bald losgeht. Und wenn man so über
die endlosen, deutschen, monokultivierten Weizenfelder schaut: nicht die
kleinste abschmelzende Polarkappe!
Da beginnt man doch, sein Land richtig geil zu finden. Da beginnt man, die
Nationalhymne leise vor sich hin zu summen …Wobei, neulich hat mir doch mal
ein Typ an den Hintern gefasst. Auf Sankt Pauli, nachts um halb drei. Und
nach Drogenkrieg, Blutrache und Columbine sah es da irgendwie auch aus.
Doch seis drum. Wenn man dieses Land schon sonst nicht rühmen mag, so doch
vielleicht durch diese Hintertür. Oder wie es Theodor W. Adorno (oder war
es Rudi Dutschke?) bereits vor Jahrzehnten formuliert hat: „Deutschland zu
preisen ist bekloppt, außer in Negation.“
18 Sep 2015
## AUTOREN
Ella Carina Werner
## TAGS
Deutschland
Patriotismus
Theodor W. Adorno
Ungarn
Dinner
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Albanien
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Schleswig-Holstein
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