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# taz.de -- Die Wahrheit: Rührend ungelenk
> „Experten des Alltags“ erobern die Welt. Die Wahrheit stellt die fünf
> wichtigsten Versuchsexemplare aus Theater und Wirklichkeit vor.
Bild: Die Lebenswirklichkeit auf die große Bühne des Theaters bringen, das k�…
Ein bekanntes Hamburger Theater hat kürzlich Flüchtlinge gefragt, ob sie
Lust hätten, in einem neuen Stück mitzuspielen, um auf großer Bühne
authentisch von ihren Erfahrungen zu erzählen. Haben sie nicht. Sie hätten
bereits in so vielen Theaterstücken mitgespielt, lautete ihre Antwort, sie
würden gern auch mal wieder Zeit für was anderes haben, zum Beispiel für
ihren Papierkram. Ob auf großen Staatsbühnen oder muffigen Provinzbrettern,
ob mit Obdachlosen, ausgebrannten Managern oder Problemjugendlichen: Laien,
Laien, alle lieben Laien. Kein progressives Theaterstück kommt mehr ohne
die „Darsteller der Wirklichkeit“ aus, die unverfälscht aus ihrem schweren
Leben berichten. Das ist ein starkes Konzept, das auch andernorts Fuß
fassen sollte. Die Wahrheit stellt fünf Lebensbereiche vor, die dringend
nach „Experten des Alltags“ schreien.
## 1. Banker
Als schnöden „Alltagsmenschen“ will sich John Cryan, Vorstandschef der
Deutschen Bank, zwar selbst nicht sehen, doch auch der Bildungsbürger mit
den Krokodilslederkrawatten experimentiert gern mit Laien: „Auch wir borgen
uns oft mal Amateure aus – zum Beispiel von der Commerzbank!“ Vom Theater
habe es schon oft wichtige Impulse gegeben, weiß der britische
Kulturkenner. „Exzessive, ritualisierte Gebärdensprache, unartikulierte
Laute, Schreien und Heulen – ja, kommen Sie mal kurz vor Börsenschluss in
unsere Hauptfiliale!“ Ob jedoch Cryans eigene, aalglatte Bankenkarriere
tatsächlich so stimmig ist? Wer seine verhornten Fingerkuppen und seine
verlebten Gesichtszüge sieht, dem kommen ganz leise Zweifel, doch der
„Berufsbanker“ hüllt sich geheimnisvoll in Schweigen.
## 2. Gotteskrieger
Dass sie in Sachen Progressivität ganz vorn mitspielen, haben die Kämpfer
des sogenannten Islamischen Staates längst bewiesen, vor allem mit ihrem
Social-Media-Einsatz: Twitter-Tweets ohne Ende, bis zu 250 Salven pro
Minute. Berufssoldaten mit Tunnelblick anwerben? Die Terrortruppe winkt ab.
Zu zaghaft, viel zu verschult. Lieber rekrutiere man den urwüchsigen Mann
von der Straße, unbedarfte Alltagsmenschen aus Europa: drei Tage Crash-Kurs
im syrischen Camp und eine Gehirnwäsche gratis – und die frisch gebackenen
Gotteskrieger meucheln frisch drauflos.
## 3. Makler
Über den „progressiven“ Einsatz von Laien kann Jens-Ulrich Kießling vom
„Immobilienverband Deutschland“ nur müde lächeln. „Das machen wir doch
schon immer. Das ist unsere Essenz! Profi-Makler?“ Kießling lacht ein
dreckiges Lachen. „Das ist ein köstliches Oxymoron! Wie soziale
Marktwirtschaft oder Fifa-Ethikkommission!“ Seit jeher sei die
Immobilienhökerei ein Auffangbecken für Alltagsmenschen ohne echte
Profession, das sei kein Geheimnis. „Makler sind an Liebe leer, aber reich
an Lebenserfahrung. Wenn auch selten schöner!“
## 4. Politiker
Keine menschliche Sphäre gilt als derart abgehoben, als so meilenweit weg
von den Nöten der Menschen, wie die Parteipolitik. Doch damit ist jetzt
Schluss. Nicht ein, nicht zwei, sondern 67 Experten des Alltags schickt die
SPD bei der kommenden Landtagswahl in Baden-Württemberg ins Rennen!
Aufgelesen von der Straße, in Trinkstübchen, Solarien oder Wettbüros.
Herrlich ungelenke Laien als Polit-Laien, die mit ihrer authentischen Art
an die Lebenswelt der Normalbürger andocken, die rührend unbedarft
drauflosschwatzen wie vor ihnen allenfalls Edmund Stoiber. „So viel
Wirklichkeit war nie!“, jubelt der SPD-Chef Sigmar Gabriel.
## 5. Bayern
„Pah, innovativ! Wir als Bayern experimentieren schon lange mit Laien!“,
kontert Markus Söder und reißt sein Anzughemd vom Leib, dass darunter ein
blutbesprenkeltes Unterhemd aufblitzt: „Jaa, auch ich bin ein Experte des
Alltags! Im richtigen Leben bin ich ein obdachloser Schweineschlachter mit
Flüchtlingswurzeln! Meine öde Parteibiografie war und ist frisiert!“ Der
sonst so selbstbeherrschte Bayern-Apparatschik kennt plötzlich kein
weiß-blaues Halten mehr: „Aber damit nicht genug: Ich bin auch ein Amateur
des Alltags! Two in one! Wenn ihr da draußen, außerhalb Bayerns, mich sehen
würdet, wie ich morgens meine Unterhose im Halbschlaf verkehrt herum
anziehe … zum Schießen!“
Übrigens: Authentische Menschen kann man auch andernorts sehen, zum
Beispiel durch das Fenster. Stundenlang kann man ihnen zusehen, wie sie
unverfälscht durch die Straßen schlunzen, einander herrlich zur Sau machen
oder mit Schokoladeneis ihre Kleidung bekleckern – und das alles für
umsonst. Oder man schaut einfach in den Spiegel. Denn man selbst ist ja
auch kein Niemand, man ist ebenfalls ein Experte des Alltags. Ein irgendwie
erhebender Gedanke.
12 Feb 2016
## AUTOREN
Ella Carina Werner
## TAGS
Theater
Schauspieler
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Albanien
Deutschland
Duisburg
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