# taz.de -- Willkommenskultur in Deutschland: Helfen als Lebensgefühl | |
> Die Ankunft von immer mehr Flüchtlingen hat zu einer beispiellosen | |
> spontanen Hilfsbereitschaft geführt. Doch am besten sind echte soziale | |
> Beziehungen. | |
Bild: Auch Sigmar Gabriel versucht sich im persönlichen Kontakt mit Geflüchte… | |
HAMBURG taz | Irgendwas hat jeder davon. Sei es, um sich einfach besser zu | |
fühlen. Imagewerbung, wie bei Til Schweiger, der über seinen Sprecher | |
verbreiten lässt, dass er demnächst einem Osnabrücker Flüchtlingsheim WLAN | |
spendieren wird. Oder eine Aufgabe, wenn das Leben in seiner zweiten Hälfte | |
leer zu werden droht – das „Empty-Nest-Syndrom“, wie manche spotten. | |
Lebenslauf-Tuning, wie für einige Studenten. Moralische Aufladung, wie für | |
das Hamburger Thalia-Theater mit seinem Chor von Lampedusa-Flüchtlingen. | |
Und auch wer Geld damit verdient, dass er Flüchtlingen hilft, ist deshalb | |
kein schlechter Mensch. Alle, die das professionell tun, werden auch | |
bezahlt. | |
Wohin man schaut, wird in diesen Tagen zur Hilfe für Flüchtlinge aufgerufen | |
und wohin man schaut, folgen Menschen diesem Aufruf. Im Lichtenhagen-Land. | |
In einer Woche, in der das Innenministerium eine bislang nicht vorstellbare | |
Dimension ankommender Flüchtlinge prognostiziert. In der Summe ist diese | |
Hilfe ein riesiger Sprung nach vorn für das gesellschaftliche Klima. Im | |
Einzelfall ist sie mal bitter nötig und berührend, mal überflüssig, mal | |
hintersinnig – und manchmal abstoßend. | |
Die Frage ist dabei nicht, ob die Helfer selbst etwas von ihrer Hilfe | |
haben. Die Frage ist: Was haben die Flüchtlinge davon? Und: Haben die | |
Helfer den Anspruch, die Ungleichheit, die jeder Hilfe eingeschrieben ist, | |
zu überwinden? | |
Da gibt es zum Beispiel den Immobilienunternehmer, der letzte Woche sein | |
Konzept für besonders bewohnerfreundliche Flüchtlingsheime präsentierte. | |
Sie heben sich tatsächlich wohltuend von dem ab, was in dem Bereich leider | |
üblich ist. Er wettert gegen schwarze Schafe im Heim-Business wie die | |
Firma, mit der Schweiger zunächst ein eigenes Flüchtlingsheim bauen wollte | |
– und erklärt gleichzeitig völlig ungeniert, die „junge | |
Flüchtlings-Industrie lowckt mit traumhaften Renditen von bis zu 20 Prozent | |
pro Jahr“. | |
Da gibt es eine große Zeitung in Hamburg, die sich lange Jahre kein Stück | |
daran gestört hat, dass Hamburg im Bundesländer-Vergleich ein herausragend | |
herzloses Abschieberegime betrieben hat. Im Juli nun ruft sie zur | |
Spendenabgabe für Flüchtlinge auf, voller Rührung lobt der Chefredakteur | |
erst die „Spendenstadt Hamburg“ – und dann die Polizei, die den | |
„Ausnahmezustand“ auf der Straße vor dem Verlagsgebäude managen musste. | |
## Distinktionsgewinn als Lohn | |
Da steckt eine der reichsten Städte Europas über 1.000 Flüchtlinge in eine | |
Messehalle, eine sonst eher bei Vulkanausbrüchen oder nach Erdbeben gängige | |
Praxis. Zu einer Versammlung, um Hilfe für die neuen Hallenbewohner zu | |
organisieren, kommen Hunderte Menschen. In einer halben Stunden gründen sie | |
16 AGs. Sie wollen alles richtig machen, sie wollen die besten sein bei der | |
Flüchtlingsunterstützung. Der Lokalblog St.-Pauli-News schreibt: „Das kann | |
nur St. Pauli.“ Der Lohn heißt Distinktionsgewinn. Die Helfer hier aber | |
beschränken sich nicht auf AGs „Deutschunterricht“, „Sport & Spaß“ od… | |
„Kleiderkammer“, sondern verfassen auch eine Resolution namens „Never mind | |
the papers!“. Welchen Aufenthaltsstatus die europäische Flüchtlingspolitik | |
den Menschen zuweise, „interessiert uns nicht“, heißt es darin. „Wer hier | |
angekommen ist, gehört dazu und bleibt.“ | |
Da gab es die BürgerInnen im Hamburger Stadtteil Ohlstedt, die in nur einer | |
Woche dutzende Kinderbetten sammeln, damit keine alleinstehenden | |
Erwachsenen, sondern Familien in das Zeltlager in ihrem Stadtteil kommen. | |
Weiter gingen Anwohner in Harvesterhude: Sie agitierten gegen ein geplantes | |
Flüchtlingsheim, mit der Begründung, in dem Nobelstadtteil gebe es nicht | |
genug günstige Supermärkte. Ähnlich verfahren vor allem in Ostdeutschland | |
immer öfter Bürgerinitiativen aus dem AfD- Spektrum oder von noch weiter | |
rechts: Sie sagen nicht, dass sie gegen Flüchtlinge sind, sondern vielmehr | |
für gute Unterbringung. Und die ist, selbstredend, in der eigenen Stadt | |
nicht möglich. | |
Und es gibt Fälle wie die ältere Dame aus einem engagierten Helferkreis, | |
die kürzlich von Flüchtlingen gebeten wurde, bei einer Aktion zu | |
Fluchtursachen und Rüstungsexporten mitzumachen, ihnen aber lieber schrieb: | |
„Wir engagieren uns gerne für Menschen hier, die Hilfe brauchen, jedoch | |
lassen wir uns nicht unterordnen unter politische Aktionen.“ | |
## Sozialleistungen sind sicherer | |
Anders als oft getan wird, gibt es keinen ideellen Gesamtflüchtling, in dem | |
die Interessen aller zusammenlaufen. Manche verabscheuen Deutschland für | |
seine Flüchtlingspolitik, andere sind dafür dankbar. Beides ist legitim. | |
Manche wollen kämpfen, andere wollen einen Ventilator. Den kann man ihnen | |
geben. Aber dabei, und das gilt für jede Hilfe, darf es nicht bleiben. Für | |
die materielle Versorgung ist der Staat zuständig. Daran ist nicht zu | |
rütteln. | |
Materielle Hilfe darf sich immer nur als Korrektiv verstehen – und muss | |
entsprechend politisch flankiert sein. Agieren Helfer anders, verabschieden | |
sie sich vom Anspruch gleicher Rechte. Stattdessen machen sie Flüchtlinge | |
abhängig von willkürlicher Wohltätigkeit. Die ist gerade en vogue, kann | |
aber schon morgen abflauen. Sozialleistungsansprüche sind vielleicht nicht | |
sicher vor der CSU, die den Flüchtlingen das Taschengeld kürzen will, aber | |
allemal stabiler als die Lust der Spendensammler. | |
## Antiserum gegen Fremdenhass | |
Es gibt aber etwas, das der Staat nicht kann. Und das ist vermutlich das | |
Wichtigste, wenn es darum geht, sich hier ein neues Leben aufzubauen: | |
Tatsächliche soziale Integration. Dafür ist persönlicher Kontakt | |
unersetzlich. Er ist wichtiger als reparierte Fahrräder und | |
Theaterprojekte, als Zahnpastaspenden und Ventilatoren. Echte soziale | |
Beziehungen sind Meta-Hilfe. Sie wirken potenziell auf alle Bereiche. | |
Natürlich sind soziale Beziehungen erst recht willkürlich, erst recht | |
ungerecht verteilt. Sie beruhen oft auf Sympathie, auf Glück oder, ja, auf | |
Mitleid. Das liegt in der Natur der Sache. Trotzdem ist das wohl Beste an | |
der ganzen Hilfswelle, dass die Leute mit Flüchtlingen in Kontakt kommen. | |
Genau das sind sie zu lange nicht. Und das ist, so darf man annehmen, auch | |
der Grund dafür, warum Pegida und andere es trotz der hohen Zahlen von | |
Neuankömmlingen schwer haben: Weil immer mehr Menschen Flüchtlinge | |
kennenlernen, und die Propaganda deshalb bei ihnen nicht mehr verfängt. Die | |
persönlichen Kontakte sind wie ein Antiserum für Fremdenhass. Bislang | |
scheint es zu wirken. So, wie die Dinge liegen, sollte die Dosis nicht | |
verringert werden. | |
„Den ganzen Willkommenskultur-Schwerpunkt lesen Sie in der taz.am | |
Wochenende oder [1][hier].“ | |
21 Aug 2015 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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