# taz.de -- Abstieg eines Unternehmersohns: Der letzte Mieter | |
> Jens Meyer* stammt aus einer Unternehmerfamilie, wohnt aber heute als | |
> Sozialhilfeempfänger im feinen Hamburg-Winterhude. | |
Bild: Im wohlhabenden Stadtteil Winterhude kennt er niemanden, aber alle kennen… | |
„Solange du nicht stirbst und es hinter deiner Wohnungstür mieft, macht | |
sich hier keiner Sorgen um dich“, sagt Jens Meyer*. Um ihn herum stapeln | |
sich Kartons, Schachteln, Ringordner und Bücher fein säuberlich etikettiert | |
in Holzregalen bis hoch zum Stuck an der Decke. Ein Teppich bedeckt den | |
Dielenboden. Auf einem Sofa vor dem Balkon sitzen zwei Clownspuppen. Vor | |
einigen Wochen hat Meyer erfahren, dass ein Rollstuhlfahrer im Haus | |
gegenüber in seiner Wohnung verbrannt ist. Er kann aus seinem Wohnzimmer | |
auf die Vorhänge des toten Nachbarn schielen. Den Mann selbst hat er nie | |
gesehen. Meyer wohnt in der Nähe der Alster im Hamburger Stadtteil | |
Winterhude. Als gehobene Mittelschicht beschreibt er seine Nachbarn. Zur | |
Mittelschicht gehört er schon lange nicht mehr. | |
„Viele meinen, wer hier wohnt, hat viel Geld“, sagt Meyer, nimmt auf einer | |
Ecke seines Schreibtisches Platz und biegt das Metallgestell seiner Brille | |
zurecht. Durch seine milchigen Fenster kann er die teuren Kleinwagen vorm | |
Haus parken sehen. Wer sie fährt, weiß er nicht. „Ich kenne hier niemanden, | |
aber mich kennt hier jeder.“ Zumindest beschleicht ihn das Gefühl, wenn er | |
auf den fein säuberlich gefegten Bordsteinen steht. Und irgendwie stimmt | |
das mit dem Geld auch, liegt doch das durchschnittliche Jahreseinkommen in | |
Winterhude mit knapp 50.000 Euro fast 15.000 Euro über dem stadtweiten | |
Schnitt. | |
Im Norden Winterhudes finden sich Alt- und Neubauten, der Osten und der | |
Süden des Viertels sind geprägt von alten Villen mit großen Gärten. Es ist | |
eine beliebte und teure Wohngegend, wegen der guten Verbindung zur | |
Innenstadt, wegen der Ruhe und der Außenalster. Es gibt nur wenige | |
Sozialhilfeempfänger im Viertel, kaum Sozialwohnungen. Meyer wohnt nahe | |
des Villenviertels, wo Frauen ihre Kinder in Bugaboo-Kinderwägen durch die | |
Straßen schieben und im Restaurant getrüffeltes Schwein zu Mittag essen, wo | |
Männer in Anzügen herumlaufen und dabei die ganze Zeit telefonieren. Meyer | |
macht nichts davon. | |
Der 76-Jährige lebt von 465 Euro Grundsicherung im Monat. Zu wenig, um in | |
der Bio-Bäckerei um die Ecke einzukaufen. Einmal in der Woche steigt Meyer | |
in seinen 20 Jahre alten Ford und fährt zur Ausgabestelle der Tafel in den | |
Nachbarstadtteil Groß Borstel. Dort werden unverkäufliche und gespendete | |
Lebensmittel an Arme verteilt. Die Fahrt zur Tafel missfällt ihm auch nach | |
fast zwei Jahrzehnten noch. „Manchmal gibt es dort seltsame Lebensmittel“, | |
sagt Meyer. „Heute gab es zwei Äpfel, meist gibt es Konserven. Einmal habe | |
ich sechs Pakete voller Cola-Extrakt bekommen.“ | |
## Bis zum Tod in Winterhude | |
Die meiste Zeit verbringt er in seiner Wohnung im zweiten Stock eines | |
renovierten Altbaus. Er ist der letzte Mieter. Alle anderen Wohnungen im | |
Haus sind längst in Eigentum umgewandelt worden. Seit über 20 Jahren lebt | |
er hier auf 75 Quadratmetern. Viel für einen alleinstehenden Mann, viel für | |
einen Sozialhilfeempfänger. Nach dem Gesetz stehen ihm eigentlich nur 45 | |
Quadratmeter zu. Doch Meyer ist schwerbehindert und da kann das Sozialamt | |
eine Ausnahme machen. Seine Miete von knapp 500 Euro wird zum größten Teil | |
vom Amt übernommen. | |
Mit Meyers Wohnung könnte man ohne Meyer drin ein „Heidengeld“ machen, wie | |
er selbst sagt. Das weiß auch sein Vermieter. Als der vor ein paar Jahren | |
seinen Porsche vor Meyers Wohnung parkte und zu ihm kam, um über die Miete | |
zu verhandeln, lud Meyer ihn kurzerhand zum Essen ein. Der Vermieter blieb | |
einen halben Tag und am Ende versprach er Meyer, dass er bis zu seinem Tod | |
in der Wohnung bleiben darf. Ohne Mieterhöhung, aber auch ohne | |
Renovierung. Das ist Meyer egal, schließlich ist er einer der Glücklichen, | |
die keine Angst haben müssen, auch noch die eigene Wohnung zu verlieren. | |
An andere Zeiten erinnern die schwarz gerahmten Bildern aus seiner Kindheit | |
und Jugend. Meyer stammt aus einer Hamburger Unternehmerfamilie. Er hat | |
immer gern gearbeitet. Erst als Fernmeldemonteur, dann fuhr er fünf Jahre | |
als Funkoffizier zur See. Für sein Ingenieursstudium kam er wieder zurück | |
nach Hamburg. | |
Er war Angestellter bei einer Tochterfirma der Hamburger Hochbahn. Während | |
einer Kündigungswelle verlor er das erste Mal seinen Job. Er rappelte sich | |
wieder auf und machte sich wie schon sein Vater selbstständig. 17 Jahre | |
leitete er sein eigenes Ingenieurbüro. Er heiratete und kaufte ein Haus. | |
„Wäre alles gut gegangen, würde ich heute auf großen Fuß leben“, sagt | |
Meyer. | |
Aber 1992 verletzte er sich schwer. Plötzlich ist er schwerbehindert. Über | |
den Unfall, der sein Leben veränderte, möchte er heute nicht mehr sprechen. | |
Er hätte als Selbständiger für später vorsorgen müssen, das hat er nicht | |
getan. Seine Ehe zerbrach, er verlor sein Haus. „Meine Frau hat sich | |
getrennt, weil sie meinte, ich wäre alkoholabhängig“, sagt er. „Ich habe | |
auch viel gesoffen.“ Mit dem Trinken hat er wieder aufgehört, seine Frau | |
kam trotzdem nicht zurück. „Manchmal war ich noch eifersüchtig. Aber vor | |
fünf Jahren habe ich das überwunden“, sagt er über seine Scheidung vor zwei | |
Jahrzehnten. | |
## Keine Frührente trotz Schwerbehinderung | |
Mit den Behörden habe er von Anfang an keinen guten Start gehabt, sagt | |
Meyer. Als er von einen auf den anderen Tag nicht mehr arbeiten konnte, | |
bekam er keine Frührente. „Schließlich kann man ja auch noch ohne Kopf und | |
Arm Zeitungen austragen“, äfft Meyer seine damalige Sachbearbeiterin nach. | |
Als Kunde sieht er sich schon lange nicht mehr, eher als Bittsteller. | |
Arm fühlt er sich trotzdem nicht. Auch wegen Maria Ilinca*. Mit ihr ist er | |
seit über 20 Jahren befreundet. Sie pflegte seine Eltern bis zu ihrem Tod. | |
Heute hilft sie ihm im Haushalt. Wenn die verwitwete 75-Jährige ihn | |
besuchen kommt, nimmt er ihr den Mantel ab und lädt sie zum Kaffee ein. Den | |
muss Maria selbst aufbrühen, das macht Meyer nicht mehr. Dafür darf sie | |
auch mal in seinem Gästezimmer schlafen, wenn sie gerade ihre Wohnung | |
renoviert oder einfach Gesellschaft braucht. | |
Maria ist oft bei ihm. Er neckt sie, wenn der Rumänin ein deutsches Wort | |
nicht einfällt und sie belehrt ihn, wenn er „mal wieder Unsinn“ redet. Und | |
beide erzählen die Geschichte des anderen als wäre es ihre eigene. Auch | |
Maria lebt von Grundsicherung, das verbindet. Mit seinen Nachbarn im Haus | |
und im Viertel hat Meyer keinen Kontakt. | |
Er versucht, trotz seiner finanziellen Lage in Bewegung zu bleiben und sich | |
nicht abzukapseln. „Ein Theaterbesuch ist zwar teuer, aber es gibt andere | |
Wege“, sagt Meyer. Auf seinem Schreibtisch stehen zwei Computer, mit denen | |
er im Internet nach kostenlosen Veranstaltungen sucht. Über Facebook bleibt | |
er mit anderen Menschen in Kontakt und gerade reiste er mit einer | |
Hilfsorganisationen für Senioren in ein Hotel an die Ostsee. „Und das für | |
nur 30 Euro“, sagt er. „So einen Sparpreis kann sich nicht jeder leisten. | |
Das bekommen nur wir Sozialleistungsempfänger.“ | |
Fast 30 Euro kostet auch sein Abo der vom Bundestag herausgegebenen Zeitung | |
Das Parlament. Aber darauf könne er nicht verzichten, schließlich müsse man | |
politisch informiert bleiben. „Ich bin Ingenieur. Mich interessieren nur | |
die Fakten“, sagt Meyer. Man dürfe nicht träge werden. „Viele Menschen mit | |
wenig Geld machen einfach gar nichts“, sagt Meyer. | |
Regelmäßig geht er wegen seiner Behinderung zu einer Selbsthilfegruppe. | |
„Dort sagen alle, man könne ja doch nichts an seiner Situation ändern.“ | |
Meyer findet das Quatsch. Schließlich kann man aus jeder Situation etwas | |
herausholen. Arm hat sich Meyer in dem wohlhabenden Viertel nie gefühlt. | |
„Das liegt vielleicht auch daran, dass Geld für mich kein Kriterium dafür | |
ist.“ | |
*Namen von der Redaktion geändert | |
9 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Stefanie Diemand | |
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