# taz.de -- Flüchtlinge in Urlaubsorten der Türkei: Die heimliche Durchreise | |
> Es fing mit ein paar Haufen Müll an. Dann wurde unserem Autor klar: Die | |
> Nachrichten über Flüchtlinge haben direkt etwas mit ihm zu tun. | |
Bild: Migranten in der türkischen Stadt Bodrum am 19. August, die von hier aus… | |
Es geschah vor drei Wochen, als wir mit unseren Hunden spazieren gingen. | |
Wir waren wie üblich auf einer der Grünflächen entlang der Küste auf der | |
Bodrum-Halbinsel, wo wir unsere Sommerferien verbrachten. Von dort aus kann | |
man die nur wenige Kilometer entfernten griechischen Inseln Kos und Leros | |
klar sehen. | |
Plötzlich stolperten wir über lauter kleine Müllhaufen. Ich fing schon an, | |
die Menschen zu verfluchen, die hier – wie es schien – eine gute Zeit | |
gehabt und einfach ihren Müll hinterlassen haben. Aber dann entdeckten wir | |
– neben Verpackungen von Schokoriegeln und leeren Wasserflaschen – zwei | |
Geräte, mit denen Schlauchboote aufgepumpt werden. | |
Dabei lagen Zigarettenschachteln mit arabischer Schrift und ausrangierte | |
Kleidung. Damit war uns sofort klar: Das waren keine Überbleibsel einer | |
Party, sondern Sachen, die Schmuggler brauchten, um ein Boot vorzubereiten: | |
ein Boot voller Migranten, sehr wahrscheinlich Syrer, die sie in der Nacht | |
in Richtung einer der griechischen Inseln schickten, die so nahe sind. | |
Wir räumten den Platz auf, aber am nächsten Tag fanden wir weitere | |
Beweisstücke. Sie zeigten, dass das keine einmalige Anstrengung war, | |
sondern eine tägliche – oder besser gesagt ein nächtliche – Routine in | |
unserer unmittelbaren Nachbarschaft. | |
Die Entdeckung war nur ein kleiner, unbedeutender Zwischenfall. Aber sie | |
löste eine Reihe von Gedanken und Diskussionen mit unseren Freunden aus. | |
Über die Motive der Geflüchteten, die Moral von Schmugglern und über das | |
Fehlen einer überzeugenden Europapolitik. | |
## Eine Million Flüchtlinge im Land | |
Als Politiker lese und schreibe ich oft über Flüchtlingscamps, die ich im | |
Mittleren Osten und auf dem Balkan besucht habe. Ich verstricke mich oft in | |
hitzige Diskussionen mit Kollegen aus dem rechten Spektrum, wie man denn am | |
besten mit Asylbewerbern und anderen Migranten umgehen sollte. | |
Bislang war das Thema Migration immer Teil meines Berufslebens, nicht aber | |
meines persönlichen Lebens. Jetzt, unerwartet, änderte sich das. | |
Es ist eine Erfahrung, die derzeit viele in der Türkei machen. Viele kennen | |
die Bilder von Flüchtlingen aus den Medien. Aber seit letztem Jahr gibt es | |
fast kein Entkommen mehr, wenn man hier durch die Großstädte läuft. Seit | |
Beginn des Bürgerkriegs in Syrien hat sich die Türkei Hunderttausenden von | |
Syrern sehr gastfreundlich gezeigt. | |
Fast eine halbe Million wurde in großen, modernen Flüchtlingscamps entlang | |
der syrischen Grenze untergebracht. Mehr als eine Million Menschen sind | |
über das Land verteilt. Einige entschieden, weiter nach Europa zu wandern, | |
aber seit einigen Monaten ist die Zahl der Flüchtlinge in die Höhe | |
geschnellt. | |
## Boote, die es nicht schaffen | |
Noch einmal: Es ist eine Geschichte, die derzeit viele hier erleben. Bis | |
vor Kurzem war es etwas, was in der großen Welt da draußen geschah, ein | |
Phänomen, das nicht das tägliche Leben berührt hat. Aber die Trennung | |
zwischen unserem Leben und dem der anderen kann nicht weiter | |
aufrechterhalten werden. | |
In der Stadt Bodrum gibt es mehrere Plätze, an denen Migranten mit | |
Einheimischen in Kontakt kommen, die ihnen helfen, über das Meer zu | |
gelangen. Immer mehr Läden verkaufen Schutzwesten, wasserfeste Taschen und | |
andere Gegenstände, die eine gefährliche Überfahrt sicherer machen können. | |
Fast täglich erreichen uns Nachrichten über Boote, die es nicht geschafft | |
haben, über Menschen, die ertrunken sind oder in die Türkei zurückgebracht | |
werden. Viele realisieren erst jetzt, dass all jene, die es vermutlich nach | |
Kos oder Leros geschafft haben, nahe dem eigenen Wohnort aufs Boot gegangen | |
sind. | |
## Kein Ort zum Entspannen | |
Was uns aufweckte, waren ein paar Taschen, die wir beim Spaziergang fanden. | |
Freunde von uns waren auf einem der beliebten Touristenboote, die die | |
türkische Küste entlangschippern, als in den frühen Abendstunden plötzlich | |
zwei Gummiboote, voll beladen mit verängstigten Syrern, auftauchten. | |
Was den Umgang mit dieser Realität so schwierig macht, ist eine | |
schockierende Tatsache: Zur gleichen Zeit, zu der die meisten Touristen | |
sich hier nach einer Auszeit sehnen – weit weg von den verstörenden | |
politischen Meldungen aus Ankara wie dem Erstarken des kurdischen Konflikts | |
im Südosten und der Bedrohung durch Dschihadisten gleich hinter der Grenze | |
–, werden sie genau an diesem Ort mit der unausweichlichen Realität einer | |
massenhaften und weitgehend unkontrollierbaren Migration konfrontiert. | |
In diesem Sommer ist Bodrum kein Ort zum Entspannen. Ob es den Touristen | |
und Einheimischen gefällt oder nicht, Bodrum ist genau zu dem Ort geworden, | |
an dem Migration in ihr tägliches Leben getreten ist. | |
(Aus dem Englischen: J. Kalarickal) | |
25 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Joost Lagendijk | |
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