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# taz.de -- Historiker über drohenden Atomkrieg: „Nur mit Glück vermieden“
> Die Gefahr eines Atomkriegs ist keineswegs gebannt, warnt der Historiker
> Peter Kuznick. In den USA fehlten Debatten über die Nuklearwaffen.
Bild: Auch nach 1945 blieb der Schrecken des Atombombenabwurfs (hier Hiroshima)…
taz: Herr Kuznick, vor 70 Jahren haben die USA Atombomben über Hiroshima
und Nagasaki abgeworfen. Wie geht Ihr Land heute damit um?
Peter Kuznick: In den meisten Geschichtsbüchern der High und Middle Schools
steht weiterhin die Unwahrheit, dass die Atombomben den Zweiten Weltkrieg
im Pazifik beendeten. Fehlinformation über Jahrzehnte hat dazu geführt,
dass heute 58 Prozent der Amerikaner meinen, die Atombomben waren
gerechtfertigt, so eine Studie von Pew Poll.
Kein US-Präsident hat sich je für das Bombardement der beiden japanischen
Städte entschuldigt.
Es war überhaupt nur ein US-Präsident je in Hiroshima: Jimmy Carter. Aber
erst, als er nicht mehr im Amt war. Eine Weile hieß es, Obama würde
Hiroshima besuchen. Für einen Friedensnobelpreisträger wäre das angemessen.
Aber er hat es nicht getan. Immerhin nehmen seit 2010 die US-Botschafter an
Zeremonien in Hiroshima und Nagasaki teil.
Bei der letzten großen Modernisierung der US-Atomwaffen in den 80er Jahren
gab es weltweit Proteste – auch in den USA. Jetzt beginnt wieder eine
Modernisierung. Aber eine öffentliche Auseinandersetzung findet nicht
statt. Warum?
Die Besorgnis der 80er Jahre ist mit dem Kollaps der Sowjetunion und dem
Ende des Kalten Kriegs verschwunden. Die USA sind komatös geworden, wenn es
um ihre eigenen Atomwaffen geht. Wenn hier Atomwaffen diskutiert werden,
dann geht es um den Iran und Nordkorea.
Soll die Konzentration auf die iranischen Atombomben auch verhindern, dass
über die Atomwaffen im eigenen Land debattiert wird?
Oder über Atomwaffen in Israel. Wer bereit ist, die Argumentation der USA
zu akzeptieren, dass sie Atomwaffen zur Abschreckung brauchen, müsste auch
verstehen, weshalb der Iran, der sich im Fadenkreuz der USA befindet,
möglicherweise Atomwaffen haben will. Auch wenn er damit nicht besonders
weit gekommen sein mag. Nordkorea argumentiert, dass Saddam Hussein den
Fehler gemacht habe, keine Atomwaffen zu haben. Andernfalls hätte es keine
US-Invasion gegeben. Was das Atomenergieprogramm des Iran betrifft, wird in
den USA vergessen, dass Washington unter Carter den Iran in den 70er Jahren
dazu gedrängt hat, Atomenergie zu entwickeln, und dass der
Atomwaffensperrvertrag das zuließ.
Wieso akzeptieren US-Politiker, so viel Geld für Atomwaffen auszugeben,
obwohl der Kalte Krieg vorbei ist?
Sie glauben, dass Atomwaffen weiterhin als Abschreckung funktionieren. Die
Leute auf der Straße haben keine Ahnung, wie viel ihr Land für das
Atomwaffenprogramm ausgibt. Sie wissen auch nicht, wie viele Atomwaffen es
gibt. Wir haben es einerseits mit Ignoranz zu tun und andererseits mit
konservativen Republikanern, die großen Druck auf Obama ausgeübt haben, als
er 2010 das neue START-Abkommen zur Verringerung der Atomwaffen durchsetzen
wollte. Als Gegenleistung verlangten sie die Modernisierung des
Nukleararsenals. Die haben sie von Obama bekommen.
Präsident Obama hat 2009 in Prag eine atomwaffenfreie Welt gefordert. Aber
jetzt beginnt in seiner Amtszeit eine aufwendige Modernisierung des
Nukleararsenals.
Es ist wie üblich mit Obama: Er ist rhetorisch sehr gut, aber wenig
konsequent und wenig bereit zu kämpfen. Obama zeigt seit Langem, dass er
eine nukleare Abrüstung will – schon seit 1982, als er als Student an der
Demonstration von einer Million Atomwaffengegnern im New Yorker Central
Park teilnahm. Aber er hat weniger für die atomare Abrüstung getan als
seine Amtsvorgänger: George H. Bush hat das Nukleararsenal um 41 Prozent
reduziert, Clinton um 22 Prozent, George W. Bush um 50 Prozent, Obama nur
um 10 Prozent. Nach seinen Plänen sollen im nächsten Jahrzehnt ein Dutzend
neue raketenbestückte U-Boote, bis zu 100 neue Bomber und 400 landgestützte
Raketen gebaut sowie acht Labore modernisiert werden. In den nächsten drei
Jahrzehnten ergeben sich aus dieser Modernisierung des Nukleararsenals
Kosten von bis zu einer Billion Dollar.
Wo unterscheiden sich Demokraten und Republikaner in der Atomwaffenfrage?
In der Rhetorik. Aber in der Praxis haben sowohl Demokraten als auch
Republikaner den Erhalt und Ausbau des Nukleararsenals unterstützt. Der
Demokrat Präsident Truman [1945–53, d. Red.] hat den Atomwaffen-Wettlauf
begonnen. Der Republikaner Eisenhower [1953–61, d. Red.] hat bei seinem
Amtsantritt rund 1.000 Atomwaffen vorgefunden. Als sein letzter
Haushaltszyklus zu Ende ging, hatten die USA rund 30.000 Atomwaffen.
Eisenhower hat den „Militärisch Industriellen Komplex“ geschaffen. Aber
wenn ich meine Studenten nach Eisenhower frage, reden sie von seiner
Abschiedsrede, in der er vor der Macht des „Militärisch Industriellen
Komplexes“ gewarnt hat.
Sind Atomwaffen Teil der nationalen Identität der USA?
Atomwaffen sind ein wichtiger Teil von US-Politik und -Identität. Aber es
ist schwer, ehrlich darüber zu reden. Der Einsatz der Bomben gegen Japan
war weder militärisch nötig noch moralisch gerechtfertigt. Das untergräbt
den Mythos von der amerikanischen Besonderheit, Uneigennützigkeit, vom
Wohlwollen, von Freiheit und Demokratie. Deswegen halten wir so stark an
der Mythologie fest, dass die Bomben den Zweiten Weltkrieg im Pazifik
beendet und dass sie eine Invasion verhindert hätten, die eine halbe oder
eine ganze Million US-amerikanische Menschenleben gekostet hätten. Es gibt
eine tiefe Ambivalenz darüber, dass wir als einziges Land Atombomben
eingesetzt und dass wir absichtlich auf Frauen und Kinder gezielt haben.
Welche Rolle spielen Atomwaffen in der US-Außenpolitik?
Sie sind seit 1945 ein wichtiges Werkzeug der US-Außenpolitik. Schon in der
Irankrise von 1946 hat Truman geprahlt, er werde die sowjetische
Nuklearpolitik stoppen. Eisenhower war ein Meister von nuklearen
Erpressungen und Drohungen. Aber auch jeder spätere Präsident hat das
gemacht, inklusive Obama. Wenn ein US-Präsident sagt: „Alle Optionen sind
auf dem Tisch“, schließt das die Drohung mit Atomwaffen ein. Allein in
Vietnam haben die USA nach Angaben von Le Duan [dem damaligen Parteichef,
d. Red.] 13 atomare Drohungen ausgesprochen. Der Ökonom, Friedensaktivist
und Whistleblower Dan Ellsberg hat mal gesagt: Die USA haben die Atomwaffen
nicht nur zweimal in 1945 benutzt, sondern immer wieder danach. So wie ein
Räuber eine Schusswaffe an einen Kopf hält, ohne abzudrücken.
Waren die US-Drohungen auch militärisch ernst gemeint?
Wir haben den Franzosen bei Dien Bien Phu [in Vietnam, 1954, d. Red.] zwei
oder drei Atombomben angeboten. Das war ernst gemeint. Wir meinten es auch
sehr ernst mit der Atomdrohung in der Kuba-Raketenkrise [im Jahr 1962, d.
Red.]. General LeMay wollte einen präemptiven nuklearen Schlag gegen die
Sowjetion. Kennedy und Chruschtschow haben getan, was sie konnten. Aber wir
haben den Nuklearkrieg nur durch verdammtes Glück und nicht durch
politische Leistung vermieden. Bei der Kubakrise haben die Russen erlebt,
dass sie nicht mithalten konnten. Daraus haben sie die Lehre gezogen,
nuklear aufzurüsten.
Was sind heute die potenziellen Ziele von US-Atomwaffen?
Das Ziel ist Russland. Die USA und Russland haben weiterhin Tausende
Atombomben einsatzbereit gegeneinander gerichtet. Verschiedene Krisen
könnten nuklear werden. Der ukrainische Konflikt ist sehr ernst. Obamas
Politik hat diesen Konflikt intensiviert. Die „Hinwendung zu Asien“ ist
eine sehr feindselige Politik gegen China. Sie sorgt für eine Situation
voller potenzieller Risiken in Asien. Aber das nukleare Risiko existiert
auch zwischen Staaten wie Pakistan und Indien. Als sie vor einigen Jahren
am Rande eines Krieges standen, wurde befürchtet, dass Indien Pakistan
überrennen und Pakistan mit Atomwaffen zurückschlagen würde. Wir wissen
heute, dass schon ein begrenzter Nuklearkrieg zwischen Indien und Pakistan,
in dem nur 100 bis 200 Atomwaffen benutzt würden, zu einem partiellen
nuklearen Winter führen würde mit zwei Milliarden Toten, mit Hungersnöten
und Krankheiten ein Jahrzehnt lang. Nordkorea ist auf jeden Fall ein
instabiles Land. Die andere Seite ist die Gefahr, dass Terroristen die
Kontrolle über Atomwaffen gewinnen.
Gibt es noch die Überlegung in den USA, Atombomben gegen terroristische
Gruppen einzusetzen?
Atombomben können gegen Staaten genutzt werden, gegen die Iraner, die
Nordkoreaner. Terroristen aber haben keine Adresse.
Die meisten UN-Mitglieder wollen die Atomwaffen abschaffen. Aber sie können
sich nicht durchsetzen. Ist ein Atomwaffenverbot mit den USA überhaupt
möglich?
Ich halte es für möglich. Aber es verlangt einiges politisches Umdenken.
Als Erstes ist es nötig, die Zahl der Atomwaffen unterhalb der Schwelle des
nuklearen Winters zu bringen.
Wo liegt diese Schwelle?
Unter 1.000 Atombomben weltweit. Damit hätte jeder die Abschreckung, und
wir könnten schrittweise den Rest abschaffen. Im Russell-Einstein-Manifest
von 1955 hieß es: Wenn ein Nuklearkrieg New York, London und Moskau
ausradiert, könnte die Zivilisation nach mehreren hundert Jahren
zurückkommen. Aber das größere Risiko sei, dass ein Atomkrieg alles Leben
auf dem Planeten auslöschen würde. Mit den Atomwaffen haben Menschen die
Möglichkeit, alles Leben auf dem Planeten auszulöschen. Auf dem Höhepunkt
des Kalten Krieges hatten wir weltweit rund 70.000 Atomwaffen, heute sind
es noch rund 16.300. Ein kleiner Prozentsatz davon würde ausreichen, um den
Planeten zu zerstören.
6 Aug 2015
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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