# taz.de -- Sommerserie Großstadtrevier (2): „Es gibt kein Gleichgewicht“ | |
> Ob Gottesanbeterin, Feige oder Zymbelkraut: Tiere und Pflanzen wandern | |
> schon immer nach Berlin ein. Biologe Ingo Kowarik rät im Interview zu | |
> Gelassenheit. | |
Bild: Oops, wo bin ich denn hier? Ach kieke mal, Berlin. | |
taz: Herr Kowarik, manche Experten sagen, die Invasion von Tieren und | |
Pflanzen sei das Umweltproblem diese Jahrhunderts. Betrifft das auch | |
Berlin? | |
Ingo Kowarik: Es gibt von der UN eine Einschätzung der wesentlichen Gründe | |
für den weltweiten Artenrückgang. Dazu zählt der Klimawandel, aber auch | |
Invasionen durch eingeführte Tier- und Pflanzenarten. Allerdings ist die | |
Bedeutung dieses Themas in verschiedenen Weltgegenden ganz unterschiedlich: | |
Sehr wichtig ist es etwa auf tropischen Inseln. In Berlin sind Invasionen | |
nicht so wesentlich für den Artenrückgang. Hier spielen städtische Nutzung | |
und Bebauung eine viel größere Rolle. | |
Können Sie ein paar Beispiele nennen, welche Tiere und Pflanzen Zuwanderer | |
in Berlin sind? | |
Bei den Tieren gibt es eine ganze Reihe von Insekten aus südlichen | |
Gebieten, die besonders vom Stadtklima profitieren. Städte sind ja wärmer | |
als ihr Umfeld, und Tiere, die aus wärmeren Gebieten kommen, haben deshalb | |
hier bessere Überlebenschancen. Vor ein paar Jahrzehnten kam etwa die | |
Kastanienminiermotte vom Balkan nach Berlin und hat sich an den gedeckten | |
Tisch gesetzt. Es gibt ja sehr viele Kastanienbäume in Berlin. Die sind | |
übrigens auch nicht einheimisch: Sie kamen im 16. Jahrhundert nach | |
Deutschland. Ein spektakulärer Fall ist die Gottesanbeterin, ein großes | |
Insekt, das normalerweise im Mittelmeerraum lebt. Inzwischen kommt sie auch | |
in den warmen, trockenen Lebensräumen des Naturparks Südgelände vor, eine | |
ehemalige Bahnbrache, die heute ein wichtiger Teil des modernen | |
Stadtdschungels von Berlin ist. | |
Wie ist die Gottesanbeterin hierhergekommen? | |
Sie könnte mit dem Eisenbahnverkehr aus dem Süden gekommen sein. Dafür | |
spricht, dass es auch eine mediterrane Höhlenspinne auf dem Südgelände | |
gibt. Aber ganz genau weiß man es nicht. | |
Kann man überhaupt – zumal in einer Stadt – von einem biologischen | |
Gleichgewicht sprechen, das von Invasoren durcheinandergebracht wird: Ist | |
Natur nicht ohnehin ständig im Wandel begriffen? | |
Es gibt in der Stadt kein biologisches Gleichgewicht, sondern einen | |
dynamischen Wandel der Natur, der auch notwendig ist, da immer neue, von | |
Menschen geschaffene Lebensräume entstehen. Das ist für den urbanen | |
Naturschutz durchaus eine Herausforderung! Denn es gilt, seltene oder | |
gefährdete Arten – soweit es geht – im Stadtraum zu erhalten und zugleich | |
offen gegenüber den Veränderungen unserer städtischen Umwelt zu sein. | |
Insofern hat der Berliner Naturschutz – da spreche ich auch als | |
Landesbeauftragter für Naturschutz – keine grundsätzliche Ablehnung neuer | |
Arten zum Ziel. So steht es auch in der Biodiversitätsstrategie des Senats. | |
Auch die „Neuen“ soll man erhalten, nicht als „fremd“ ausrotten? | |
Die Biodiversitätsstrategie formuliert als eines von 38 Zielen, dass | |
sogenannte invasive Arten beobachtet werden, aber nur dann reguliert werden | |
sollen, wenn sie die biologische Vielfalt erheblich beeinträchtigen. In der | |
Erläuterung dazu heißt es auch: „Gebietsfremde Arten sind zu | |
charakteristischen Bestandteilen urbaner Lebensräume geworden und werden | |
hier grundsätzlich akzeptiert.“ Das ist die offizielle Naturschutzpolitik | |
in Berlin. Aber natürlich gibt es auch Leute, die anders denken. | |
Wann verliert eine Pflanze ihren Migrationshintergrund? Es werden ja schon | |
seit Jahrhunderten exotische Pflanzen importiert. | |
Nahezu alle Berliner Pflanzen und Tiere haben einen | |
„Migrationshintergrund“, denn sie mussten nach der Eiszeit wieder | |
einwandern. Geschah dies auf natürlichem Wege, also durch Schwimmen, | |
Fliegen, Laufen, Mit-dem-Wind-Treiben, nennen wir diese Arten | |
„einheimisch“. Kamen die Arten erst durch menschliche Mitwirkung zu uns, | |
werden sie von der Wissenschaft „nichteinheimisch“ bezeichnet. Solche | |
Einführungen haben eine lange Geschichte. Seit Menschen wandern, reisen, | |
Handel treiben, verbreiten sie Tier- und Pflanzenarten. Mit Kolumbus begann | |
dann die Globalisierung des Artenaustauschs im großen Stil, weil seitdem in | |
nie da gewesenem Ausmaß Arten zwischen den Kontinenten hin und her gebracht | |
werden. Wichtig ist jedoch, dass die wissenschaftliche Unterscheidung | |
zwischen einheimisch und nichteinheimisch keine Bewertung darstellt. Der | |
Götterbaum beispielsweise stammt aus China, vermehrt sich aber gut in | |
Berlin [siehe auch Text unten]. Geschichtlich gesehen ist er hier nicht | |
einheimisch, aber heute eine typische Berliner Pflanze, die sich hier | |
etabliert hat – und damit heimisch geworden ist. | |
Der 1906 verstorbene Berliner Dichter Heinrich Seidel soll den Samen des | |
Zymbelkrauts in Berlins Straßen verstreut haben, um sich im Stadtraum zu | |
verewigen. Gibt es das Kraut noch? | |
Ja, das ist eine schöne Geschichte. Heinrich Seidel – ein berühmter | |
Konstrukteur, er hat das Dach des Anhalter Bahnhofs entworfen – war ein | |
Pflanzenliebhaber. Er selbst hat darüber berichtet, dass er oft an den | |
Kaimauern des Landwehrkanals vorbeigegangen sei und dort Samenportionen des | |
aus dem Mittelmeerraum stammenden Zymbelkrauts verteilt habe. Tatsächlich | |
ist dieses Mauer-Zymbelkraut heute weit verbreitet in Berliner Mauerfugen – | |
und in vielen anderen Städten. Es ist ein gutes Beispiel für eine Art, die | |
in Berlin nicht einheimisch ist, aber überhaupt keine Probleme verursacht | |
und seit Langem ein fester Bestandteil der Berliner Flora ist. | |
Sie sollen ja in Kreuzberg Feigenbäume entdeckt haben. Wie kamen die wohl | |
hierher? | |
Feigen sind von einigen Standorten der Innenstadt bekannt. Die sind ja | |
frostempfindlich, aber in milden Wintern können sie auch bei uns | |
überdauern, da im dicht bebauten Bereich eine Wärmeinsel ausgebildet ist, | |
mit Winterbedingungen, die etwa mit Norditalien vergleichbar sind. Die | |
Bäume kommen aus den Samen der Feigenfrüchte, die Sie bei Ihrem Obsthändler | |
bekommen können. | |
Die hat wohl jemand ausgespuckt? | |
Genau, oder weggeschmissen, weil sie faul waren. Und dann kommt aus der | |
Pflasterritze, häufig an einem Gebäude, wo es ein warmes Mikroklima gibt, | |
eine Feige. Ich habe sie auch schon in Tegel gesehen, am U-Bahnhof, an der | |
Bushaltestelle. Da wachsen sie unter Bänken hervor, auf denen vermutlich | |
einmal Feigen essende Leute saßen. | |
Bekannte invasive Pflanzen sind die Ambrosia aus Nordamerika und der | |
Riesen-Bärenklau aus dem Kaukasus, die schwere Gesundheitsschäden | |
verursachen. Kann man die überhaupt noch ausrotten oder muss man sich mit | |
ihnen abfinden? | |
In der Praxis ist das sehr, sehr schwer, weil beide Arten inzwischen weit | |
verbreitet sind. Man muss früher ansetzen und vorbeugen: Wir wissen ja, | |
dass der Riesen-Bärenklau aus den Gärten verwildert ist, dass ihn Imker | |
angesiedelt haben in der freien Landschaft, um das Blütenangebot für Bienen | |
zu erweitern. Viele Pflanzen, die man heute nicht mehr gerne hat, sind alte | |
Gartenpflanzen. Heute haben wir wieder neue Arten vor der Tür stehen: | |
Aquarienpflanzen, die sich in unseren Gewässern stark ausbreiten könnten. | |
Man muss also den Menschen sagen: Schmeißt Pflanzen nicht einfach über den | |
Zaun oder in den Teich oder Fluss. Das Gleiche gilt für Terrarientiere: | |
nicht einfach in die Natur ausbringen, wenn man zu viele hat. Das ist | |
falsch verstandene Tier- oder Pflanzenliebe. | |
28 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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