| # taz.de -- Sommerserie Großstadtrevier: So ein Fuchs! | |
| > Gewieft und gar nicht scheu. Dem Fuchs in Berlin auf der Spur. Er kommt | |
| > in der Stadt hervorragend zurecht. Großstadtrevier: Folge 1. | |
| Bild: Fuchs in Berlin-Kreuzberg. | |
| Früh am Morgen, Ende Mai: In einer Kita in Schöneberg trudeln die ersten | |
| Kinder ein. Im Garten der Einrichtung tobt da bereits das Leben. Junge | |
| Füchse klettern auf der Rutsche herum, balgen sich um Ratten und Kaninchen, | |
| die die Alte anschleppt. Unter der Treppe, die in den Garten führt, | |
| befindet sich ein Fuchsbau. Es ist schon das zweite Jahr, dass eine Fähe | |
| dort Welpen aufzieht. Das Geschrei der Kinder stört die Tiere nicht im | |
| Geringsten. | |
| Füchse mitten in der Stadt? Nichts Besonderes. Berlin ist voll von | |
| Fuchsrevieren. Die Bedingungen sind optimal. Vierzig Prozent der | |
| Landesfläche sind Grünflächen: Parks, Kleingärten, Friedhöfe, Brachen, | |
| Sumpf- und Waldflächen. | |
| In allen Stadtteilen sind Füchse zu finden. Und obwohl es einen Fuchs im | |
| Wappen trägt, gibt es in Reinickendorf nicht mehr als in Treptow-Köpenick. | |
| Selbst an der Rudolf-Wissell-Brücke, Berlins längster Autobahnbrücke, leben | |
| die Tiere mit dem rotbraunen Fell, der langen Schnauze und den aufrecht | |
| stehenden Ohren. Das Markenzeichen, das sie auf den ersten Blick vom Hund | |
| unterscheidet, ist der buschige Schwanz mit weißer Spitze. | |
| Lärm ist Füchsen egal. Hauptsache, es gibt dort, wo sie ihre Jungen | |
| aufziehen, keine Hunde, sagt Derk Ehlert, früher Wildtierbeauftragter und | |
| jetzt Sprecher der Senatsumweltverwaltung. Keiner in der Stadt kennt sich | |
| mit Wildtieren so aus wie er: „Hunde waren vor vielen Tausend Jahren | |
| Wölfe“, noch heute seien sie Erzfeinde der Füchse. „Den Welpen können sie | |
| richtig gefährlich werden.“ | |
| ## Nicht wirklich Neuberliner | |
| Der Rotfuchs (Vulpes vulpes) ist kein Einwanderer. In der Region war er | |
| immer heimisch. Einen Neuberliner kann man ihn auch nicht nennen, | |
| wenngleich niemand weiß, wann genau er in der Großstadt angekommen ist. | |
| London war die erste Metropole, in der Füchse gesichtet wurden. Das war vor | |
| etwa 60 Jahren. „Zunächst ging man von einem Irrtum aus“, berichtet Ehlert. | |
| Wie lange es in Berlin schon Füchse gibt? Ehlert bleibt da unbestimmt: | |
| „Jahrzehnte“, so seine Vermutung. | |
| Den Bestand schätzt er auf 1.600 Tiere. Auch wenn subjektiv der Eindruck | |
| bestehe, die Stadtfüchse würden immer mehr, sei der Bestand relativ | |
| konstant. Ehlert schlussfolgert das aus der Tatsache, dass die Zahl der | |
| überfahrenen Füchse seit Jahrzenten unverändert ist. „Würden es mehr, | |
| müsste auch die Zahl der überfahrenen Füchse steigen. Das ist aber nicht | |
| der Fall“. “ | |
| Im Frühjahr 2015 hat der RBB zusammen mit dem Leibniz-Institut für Zoo- und | |
| Wildtierforschung ein Fuchsbeobachtungsprogramm gestartet. Alle Berliner | |
| sind dabei aufgerufen, dem Sender ihre Begegnungen mit Füchsen zu | |
| schildern, Fotos und Filme zu schicken. Citizens Science, | |
| Bürgerwissenschaft, nennt sich das. Seither ist Berlin im Fuchsfieber. Über | |
| 1.000 Beiträge und Meldungen sind inzwischen eingegangen. „Wir sind | |
| beeindruckt von der Begeisterung der Berliner“, erzählt Verhaltensökologin | |
| Sylvia Ortmann vom Leibniz-Institut. Das Institut macht die | |
| wissenschaftliche Begleitforschung. „Wir kommen kaum hinterher mit dem | |
| Analysieren“, sagt Ortmann. | |
| Einige der Berichte ähneln sich. Daran lassen sich Muster erkennen, wie | |
| sich die Füchse in der Stadt verhalten: Wie nah sie an Häuser herankommen. | |
| Ihr Verhältnis zu Schuhen. Wovon sie sich ernähren. Jedes noch so | |
| unbedeutende Detail ist für die Wissenschaftler interessant. Als Nächstes | |
| will man die Bevölkerung bitten, Fuchsbauten zu melden. Anhand der Daten | |
| soll ein Baukataster erstellt werden. „Das würde schon mal eine | |
| Hochrechnung erlauben“, sagt Ortmann. | |
| Listig, neugierig, anpassungsfähig, nicht von ungefähr wird Meister Reineke | |
| diese Rolle in Literatur und Fabeln zugeschrieben. „Allein dass er die | |
| Städte erobert hat, beweist, wie flexibel er ist“, sagt Ortmann. Längst | |
| zeigt sich der eigentlich nachtaktive Fuchs in Berlin auch bei Tage. Erst | |
| wenn die Menschen ihm zu nahe kommen, läuft er weg. Die | |
| Mindestfluchtdistanz liegt laut Derk Ehlert bei ein, zwei Metern. Der Fuchs | |
| hat gelernt, dass von den Städtern keine Gefahr ausgeht. Anders als auf dem | |
| Land gibt es hier keine Jäger. | |
| „Der Stadtfuchs ist in jeder Hinsicht ein Erfolgsmodell“, sagt Ehlert. Nur | |
| die Wanderratte sei ihm über, was die Fähigkeit betreffe, sich den | |
| ständigen Umweltveränderungen anzupassen. | |
| ## Monogam. Polygam. Alleinerziehend | |
| „Wir müssen uns von dem traditionellen Bild verabschieden, dass eine | |
| Füchsin mit einem Rüden drei Junge hat, im Bau versteckt in einem Sandhang | |
| im Wald“, weiß Ehlert. Unterkunft, Partnerschaft, Kinderaufzucht oder | |
| Ernährung – egal worum es geht, der Stadtfuchs ist fortschrittlich und | |
| flexibel. Monogam. Polygam. Alleinerziehend. „In Berlin gibt es beim Fuchs | |
| alle erdenklichen Konstellationen“, sagt Ehlert. Es gibt | |
| Mutter-Tochter-Verhältnisse: Mutter und Tochter ziehen die Jungen groß, der | |
| Rüde wird nur zur Paarung zugelassen. Es gibt reine Rüdenverhältnisse. Und | |
| Jungfüchse, die nicht im ersten Jahr abwandern, um eine eigene Familie zu | |
| gründen, sondern sich stattdessen als Helfer am Großziehen des Folgewurfs | |
| beteiligen. | |
| Beim Stadtfuchs gibt es fast nichts, was es nicht gibt. Grundsätzlich gilt: | |
| Das Leben in der Stadt ist hektischer als auf dem Land, die Reviere sind | |
| kleiner, die Nachfrage nach Wohnraum ist größer als das Angebot. Jeder Bau, | |
| der frei wird, etwa weil der Bewohner verunglückt ist, wird sofort wieder | |
| belegt, ist Ehlerts Beobachtung: „Bei den Stadtfüchsen herrscht | |
| Wohnungsnot.“ Aber der Fuchs wäre nicht der Fuchs, wäre er nicht auch hier | |
| erfinderisch. Unter Baucontainern, Gerüsten, in ungenutzten Kellerräumen – | |
| überall sind Füchse zu Hause. | |
| Auch was seine Nahrung angeht, ist der Fuchs überhaupt nicht wählerisch. | |
| Das macht seinen großen ökologischen Wert aus: Füchse gelten als | |
| Gesundheitspolizei. Sie sind Raubtiere, aber sie fressen nicht nur Ratten, | |
| Mäuse und Kaninchen. Sie sind Allesfresser oder, wie Ehlert es ausdrückt: | |
| Opportunisten, wie wir Menschen auch. „Sie haben sich uns angepasst und | |
| nutzen die Unmengen von Nahrung, die wir ihnen bieten.“ | |
| Wo seine Futterstellen sind, weiß der Fuchs genau. Er klettert in | |
| Mülltonnen, wühlt im Komposthaufen. Hat er sein Revier neben einem | |
| Burgerladen, frisst er Hamburger. Obduktionen von Fuchsmägen haben | |
| Aufschluss über seine Ernährungsweise gegeben. Dort, wo Füchse mit Hunden | |
| und Katzen einen Lebensraum teilen, waren die Mägen bis zu 80 Prozent mit | |
| Katzen- und Hundefutter gefüllt. Hunde und Katzen selbst stehen nicht auf | |
| seinem Speisezettel. Katzenjunge schon eher. Aber Katzen sind da nicht | |
| besser, wenn es um Fuchswelpen geht. Füchse und Katzen passen auf ihre | |
| Welpen in den ersten Wochen gleichermaßen gut auf. | |
| Ende Mai, wenn die Jungfüchse den Bau verlassen, ist ein besonderes | |
| Phänomen zu beobachten – die Gartenbesitzer unter den Berlinern kennen es. | |
| Plötzlich sind die Schuhe weg, die man vor der Terrassentür abgestreift | |
| hat, weil sie nass und schmutzig sind. Oder die Arbeitshandschuhe mit dem | |
| Lederbesatz. Schuhe riechen nach Schweiß. Schweiß ist salzig. Füchse mögen | |
| Salz. Leder ist totes Fell. In der Annahme, es handle sich um Beute, | |
| schleppen Fuchswelpen alles, was sie mit totem Tier verbinden, zum Bau. | |
| Sind sie größer und erfahrener, hört das auf. | |
| Ähnlich ist es im Straßenverkehr. Je älter der Fuchs, desto schlauer. Hat | |
| der Jungfuchs den ersten Winter überlebt, hat er Chancen, drei, vier Jahre | |
| alt zu werden. Sieben Jahre sind für einen Fuchs schon ein fast biblisches | |
| Alter. Ein Drittel bis die Hälfte der Jungtiere lerne, sich im | |
| Straßenverkehr zu bewegen, schätzt Ehlert. „Erfahrene Füchse überqueren d… | |
| Fahrbahn in dem Moment, wenn kein Auto kommt.“ | |
| In der Studie des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung geht es | |
| auch darum, die Anpassungsfähigkeit des Fuchses vor dem Hintergrund des | |
| Klimawandels und städtebaulicher Veränderungen zu erforschen. Ortmanns | |
| vorläufiges Fazit: Den Füchsen in Berlin geht es super. „Sie werden | |
| bleiben, solange es geeignete Lebensräume für sie gibt.“ Um den Fuchs mache | |
| er sich keine Sorgen, sagt auch Ehlert. „Die Füchse haben unter Beweis | |
| gestellt, dass sie mit veränderten Bedingungen leben können.“ | |
| ## Friedliche Koexistenz | |
| Der Fuchs habe gelernt, die Menschen „zu lesen“, sagt Ortmann. „Er weiß, | |
| die wollen mir nichts Böses.“ Im Gegenteil. „Die holen immer nur ihr | |
| Smartphone raus, wenn ich gerade um die Ecke gucke.“ Dass die Fluchtdistanz | |
| abgenommen hat, kann auch unerwünschte Effekte haben, weiß die | |
| Verhaltensökologin. Nach dem Motto: „Hilfe, ein Fuchs kommt durch die | |
| offene Terrassentür ins Wohnzimmer. Ich habe kleine Kinder. Was soll ich | |
| tun?“ | |
| Das aber sind Ausnahmen. Normalerweise leben Fuchs und Mensch in Berlin in | |
| friedlicher Koexistenz, wenn die Grundregel beachtet wird: Wildtiere nicht | |
| füttern und nicht anfassen. Ganze zwei Male seien in Berlin in den letzten | |
| 14 Jahren Fuchsangriffe verzeichnet worden, sagt Ehlert. Einmal beim | |
| Versuch, einen Fuchs hochzuheben und zu streicheln. Das andere Mal, als ein | |
| verletzter Fuchs von der Straße getragen werden sollte. Auch unter | |
| gesundheitlichen Aspekten seien Füchse keine Gefahr, versichert der | |
| Wildtierexperte. Der Fuchsbandwurm komme in Berlin und Brandenburg seit 20 | |
| Jahren nicht mehr vor. Tollwut gebe es bundesweit nicht mehr. | |
| Den Fuchsbau in der Kita in Schöneberg gibt es übrigens nicht mehr. „Wir | |
| haben alles zumachen lassen, als die Fähe und die Jungen weg waren“, | |
| erzählt die Kitaleiterin. Die Eltern und Erzieher seien beunruhigt gewesen | |
| wegen des Fuchsbandwurms und überhaupt, sagt sie, spürbar irritiert, wie | |
| man da überhaupt noch fragen kann. „Oder wollen Sie in Ihrem Garten ständig | |
| tote Ratten und Kaninchen rumliegen haben?“ | |
| 20 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
| ## TAGS | |
| Fuchs | |
| Berlin | |
| Tiere | |
| Wildschweine | |
| Berliner Senat | |
| Mathematik | |
| Tiere | |
| Tiere | |
| Natur | |
| Katzen | |
| invasive Arten | |
| Jagd | |
| Jagd | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Berlin und die Wildschweine: Eine Riesensauerei | |
| Vandalismus in Parks und Gärten, ein Sicherheitsrisiko für Anwohner und | |
| Pkw-Fahrer: Berlin habe ein Wildschwein-Problem, meint ein | |
| CDU-Abgeordneter. | |
| Freiräume in Berlin erhalten: Autos in die Vorstadt, Grün in die City | |
| Berlin wächst – und das geht auf Kosten der Grünflächen. Statt weiter zu | |
| verdichten, muss die Politik Freiräume erhalten, neue schaffen – und Mut | |
| zur Utopie beweisen. | |
| Wahrnehmung von Gerüchen: Wie riechen Zahlen? | |
| Wissen Sie nicht? Kein Wunder. Versuchen wir doch krampfhaft, durch Zahlen | |
| unsere Welt zu erklären – und verdrängen das Sinnliche dahinter. | |
| Sommerserie Großstadtrevier (6): Fliegende Stadtforscher | |
| Krähen sind nicht nur exzellente Beobachter, sie können auch selbstständig | |
| Krähen-Probleme lösen. Dennoch dichtet ihnen der Volksmund selten Gutes an. | |
| Taz-Sommerserie Großstadtrevier (5): Was der Vierbeiner für uns tut | |
| Hunde haben eine positive Wirkung auf den Menschen – egal ob im Büro, in | |
| der Schule oder im Seniorenheim. | |
| Sommerserie Großstadtrevier (4): Brandenburg ist angefressen | |
| Naturschützer und Landwirte streiten sich um den richtigen Umgang mit dem | |
| Biber – etwa darüber, wann der Nager abgeschossen werden darf. | |
| Sommerserie Großstadtrevier (3): Keine Angst vorm Serienkiller | |
| An Katzen, häuslichen wie verwilderten, scheiden sich die Geister. Wollen | |
| die nur spielen – oder einen Massenmord unter Kleintieren anrichten? | |
| Sommerserie Großstadtrevier (2): „Es gibt kein Gleichgewicht“ | |
| Ob Gottesanbeterin, Feige oder Zymbelkraut: Tiere und Pflanzen wandern | |
| schon immer nach Berlin ein. Biologe Ingo Kowarik rät im Interview zu | |
| Gelassenheit. | |
| Kommentar Britisches Jagdgesetz: Eine peinliche Niederlage | |
| Die Scottish National Party verhinderte ein lockereres Jagdgesetz für | |
| England. Nun will man die Schotten von englischen Abstimmungen | |
| ausschließen. | |
| Jagdverband über Fuchsjagd: „Fuchsjagd ist doppelt nachhaltig“ | |
| Fuchsjagd soll ökologisch sinnlos sein. Außerdem will niemand die Felle | |
| haben. Die Biologin Astrid Sutor vom Jagdverband widerspricht. |