| # taz.de -- Sommerserie Großstadtrevier (6): Fliegende Stadtforscher | |
| > Krähen sind nicht nur exzellente Beobachter, sie können auch | |
| > selbstständig Krähen-Probleme lösen. Dennoch dichtet ihnen der Volksmund | |
| > selten Gutes an. | |
| Bild: Schlauer Schnabelträger: die Nebelkrähe. | |
| Von der Intelligenz der Krähen zu reden birgt einige Gefahren. Was daran | |
| liegt, das weder das Wort Intelligenz noch die Bezeichnung Krähen besonders | |
| klar sind. Die Intelligenz der Krähen wird man nicht in eine | |
| individuell-hierachisierende Ordnung packen können, wie es der sogenannte | |
| Intelligenzquotient bei den Menschen versucht. Sinnvoll ist der Begriff der | |
| Intelligenz, auf Krähen angewandt, vor allem in der Form, in der Charles | |
| Darwin von der Intelligenz der Regenwürmer sprach. | |
| Für Darwin zeugte besonders das Blatteinzugsverhalten der Würmer von ihrer | |
| Intelligenz. Wenn die Würmer versuchten, ein Blatt, das für ihren | |
| Erdtunneleingang zu groß war, in ihre Gänge zu ziehen, rollten, falteten | |
| oder zerlegten sie es so geschickt, bis sie es problemlos einziehen | |
| konnten. Intelligenz ist in diesem Fall weder von einem besonders | |
| kompliziert gebauten Hirn noch von einem sogenannten Bewusstsein abhängig. | |
| Sie resultiert einfach aus einem variablen Umgang mit Problemen in der | |
| Umgebung des jeweiligen Tieres. | |
| ## Nebelkrähe stibitzt Eis | |
| Genau so, wie es jene Nebelkrähe tat, der sich in einer Fußgängerzone ein | |
| junger Mann gegenübersah, der sich gerade ein Eis gekauft hatte. Kaum hatte | |
| sich der Mann vom Eisstand ab- und seinem Eis zugewandt, da stellte sich | |
| ihm eine Krähe krächzend, mit aufgeblähten Halsfedern und abgewinkelten | |
| Flügeln in den Weg. Als der Mann erschrocken ausweichen wollte, sprang die | |
| Krähe ihm in den neuen Weg. Ein Vorgang den sie so lange wiederholte, bis | |
| sie den Mann in Richtung eines Betonpollers gelenkt hatte, über den der | |
| Mann dann stolperte, im Fallen das Eis verlor und die Krähe es nahm und in | |
| einem Baum verschwand. | |
| Wobei sich in dieser Szene tatsächlich viele Elemente einer besonders | |
| häufig bei Krähen zu beobachtenden Problemlösung finden. Man könnte diese | |
| Art der Problemlösung als eine Form der Neu-Kombinatorik aus bereits | |
| vorhandenen Elementen bezeichnen. Voraussetzung dieser Eisaktion ist | |
| nämlich die Beobachtung, dass bei Menschen, wenn sie sich bei sehr heißem | |
| Wetter ein Eis kaufen, die Umgebungsaufmerksamkeit auf das Eis | |
| zusammenschrumpfen kann und sie sich, orientierungslos geworden, leicht | |
| erschrecken lassen. | |
| Dabei handelt es sich um Beobachtungen, die sich nicht auf die Schnelle | |
| machen lassen. Es sind Beobachtungen, die Zeit und Muße brauchen. Vor allem | |
| aber sind sie zuerst einmal ziel- und zwecklos. Krähen beobachten häufig in | |
| den Tag hinein, ohne ihren Beobachtungen und auch vielen ihrer | |
| Beschäftigungen – wie zum Beispiel dem Spielen mit Steinen – einen anderen | |
| Sinn zu geben als den, eben genau das zu tun, was sie gerade tun. Daraus | |
| können dann allerdings die überraschendsten Neukombinationen entstehen, die | |
| dann sehr wohl äußerst nützlich sein können. | |
| Man kann es einer der in den letzten Jahren auffälligsten neu aufgetretenen | |
| Verhaltensformen von Krähen illustrieren: dem Knacken von Nüssen mithilfe | |
| von an Ampeln haltenden Autos. Zuerst hatte man vor einigen Jahren Krähen | |
| in Tokio dabei beobachtet, wie sie Nüsse vor an Ampeln haltende Autos | |
| warfen oder auch legten, um dann die durch Überfahren geöffneten Nüsse bei | |
| folgenden Rotphasen einzusammeln und zu essen. | |
| ## Erfindung und Nachahmung | |
| Die ersten Interpretationen liefen alle darauf hinaus, hier einen typischen | |
| Fall von Erfindung und Nachahmungslernen anzunehmen. Eine Krähe hatte den | |
| Trick eingeführt und die anderen Vögel der Tokioer Population beobachteten | |
| die Pionierin und ahmten sie nach. Es stellte sich nur in dann ziemlich | |
| rascher Folge heraus, dass Krähen in Kanada, Frankfurt am Main oder | |
| Clermont-Ferrand genau die gleiche Technik anwendeten, um Nüsse aller Art | |
| mithilfe haltender Pkws zu knacken. Und heute kann einem jeder oder jede, | |
| der/die einen Nussbaum in einem Garten in einer Stadt oder Vorstadt hat, | |
| erzählen, dass Krähen andauernd Nüsse stehlen. | |
| Da es aber unwahrscheinlich ist, dass kanadische Krähen durch Nachahmung | |
| der Krähen von Tokio auf die Idee gaben, Nüsse in Rotphasen von Ampeln vor | |
| Autos zu werfen, liegt eine andere Erklärung näher. Wahrscheinlicher | |
| handelt es sich auch hier um eine relativ einfache Kombinatorik, die die | |
| Lösung eines Problems ohne eigene Erfindung in der Kopplung bereits | |
| vorhandener Elemente findet. Es brauchte eben nur seine Zeit, bis die | |
| Krähen den Zusammenhang von in Städten regelmäßig fahrenden und vor Ampeln | |
| haltenden Autos mit ihrer eigenen Unfähigkeit hartschalige Nüsse zu knacken | |
| in Verbindung setzen konnten. Eine Zeit, die aber in allen städtischen | |
| Krähenpopulationen in etwa gleich lang zu sein scheint. Denn die | |
| Verstädterung der Krähen setzte, zeitlich nur leicht verschoben, in Japan, | |
| Europa und Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg ein und hält bis heute | |
| an. | |
| In den Voraussetzungen für die durch Kombinatorik entwickelte | |
| Nussknacktechnik lassen sich weitere krähenspezifische Bedingungen | |
| benennen. Man muss schon so groß und wehrhaft seien, wie es Krähen sind, um | |
| von herausgehobenen Stellen wie Dächern, Baumkronen, Strommasten oder | |
| Straßenlaternen den Stadtverkehr in der ziellosen Dauer beobachten zu | |
| können und dessen Regelmäßigkeiten zu erkennen. Spatzen, Kohlmeisen oder | |
| Buchfinken ist diese Möglichkeit schon wegen ihrer Größe und der von Turm-, | |
| Wanderfalken, Habichten, Eulen und Bussarden ausgehenden Gefahren nicht | |
| gegeben. Sie würden an schutzlos exponierten Stellen in der Stadt nicht alt | |
| werden. Zudem ist ein spezifisches Handicap der Krähen gegenüber den | |
| erwähnten Greifvögeln eine weitere unabdingbare Voraussetzung. Krähen sind | |
| keine Greifvögel. Ihnen fehlt der Hakenschnabel wie die Greiffüße der | |
| Greifvögel. Krähen können mit ihren Füßen und ihrem Schnabel nicht mal das | |
| Fell eines Eichhörnchens selbstständig aufreißen. Als auch Aasfresser sind | |
| sie beim Aufschließen von Tierkadavern seit je auf die Hilfe von Kojoten, | |
| Geiern oder Wölfen angewiesen. Es ist für Krähen also normal, sich bei der | |
| Nahrungsbeschaffung nach Helfern und Hilfsgeräten umzusehen. | |
| ## Steine werfen | |
| Das alles zusammen macht sie in der Menschennähe, in der sie wahrscheinlich | |
| schon seit dem Auftreten der ersten modernen Menschen leben, in Städten zu | |
| technikaffinen Lebewesen. Dass sie sich zum Beispiel gern an | |
| Eisenbahnschienen aufhalten, hat nicht nur damit zu tun, dass sie dort auch | |
| Nahrung suchen und finden. Oft legen sie nur kleine Steine auf die | |
| Schienen, um sich an dem Geräusch zu erfreuen, das entsteht, wenn ein Zug | |
| die Steine quetscht. Ebenso gern werfen sie auch kleine Steine von Dächern | |
| auf Balkonmauern, wenn es dabei ein Geräusch zu hören gibt. Oder sie | |
| überprüfen die Haltbarkeit von Dichtungen an Dachkonstruktionen, wie es vor | |
| ein paar Jahren am neuen Berliner Hauptbahnhof geschehen ist. Dass man | |
| damals, weil es anschließend in den Bahnhof regnete, den Krähen die Schuld | |
| gab, anstatt die Konstrukteure wegen der schlechten Dichtungen zu | |
| verdammen, gehört zum normalen Krähenleben. | |
| Gutes dichtet man ihnen nur selten an, auch wenn das Wissen um ihre | |
| Intelligenz zum Bildungsstand gehört. Was vielleicht auch einigermaßen | |
| verständlich ist, wenn man berücksichtigt, dass Krähen auch noch zu den | |
| wenigen Lebewesen gehören, die sich im Spiegel erkennen können. Wodurch | |
| ihnen ein direkter Zugang zum sogenannten Selbstbewusstsein gegeben ist, | |
| auf das sich Menschen in der Regel viel einbilden, ohne dass es bei ihnen | |
| mit der Selbstbeobachtungsgabe der Krähen gepaart zu sein scheint. | |
| Die hochsozialen Krähen sind nämlich normalerweise nicht von Spiegeln | |
| umgeben, sondern von anderen Krähen, deren Beobachtungsgabe mit ihrer | |
| Imitationskunst auf hohem Niveau korrespondiert. Das heißt, Krähen können | |
| sich in der Kommunikation mit anderen Krähen nie sicher sein, ob sie jetzt | |
| gerade nicht von der Nachbarkrähe durch einen launigen Täuschungstrick | |
| hereingelegt werden oder ob einfach alles ereignislos vor sich hin läuft. | |
| Daraus folgt eine andauernde Wachsamkeit, die ihr Sozialleben extrem | |
| weltoffen werden lässt. Und zwar weltoffen in dem Maße, das sich andauernde | |
| Konkurrenz und hochkoordinierte Kooperation nicht widersprechen, sondern | |
| nebeneinander vorkommen, ohne dass die Konkurrenz gegenüber der Kooperation | |
| letztlich siegt. | |
| 3 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Cord Riechelmann | |
| ## TAGS | |
| Tiere | |
| Großstadt | |
| Tiere | |
| Natur | |
| Katzen | |
| invasive Arten | |
| Fuchs | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Taz-Sommerserie Großstadtrevier (5): Was der Vierbeiner für uns tut | |
| Hunde haben eine positive Wirkung auf den Menschen – egal ob im Büro, in | |
| der Schule oder im Seniorenheim. | |
| Sommerserie Großstadtrevier (4): Brandenburg ist angefressen | |
| Naturschützer und Landwirte streiten sich um den richtigen Umgang mit dem | |
| Biber – etwa darüber, wann der Nager abgeschossen werden darf. | |
| Sommerserie Großstadtrevier (3): Keine Angst vorm Serienkiller | |
| An Katzen, häuslichen wie verwilderten, scheiden sich die Geister. Wollen | |
| die nur spielen – oder einen Massenmord unter Kleintieren anrichten? | |
| Sommerserie Großstadtrevier (2): „Es gibt kein Gleichgewicht“ | |
| Ob Gottesanbeterin, Feige oder Zymbelkraut: Tiere und Pflanzen wandern | |
| schon immer nach Berlin ein. Biologe Ingo Kowarik rät im Interview zu | |
| Gelassenheit. | |
| Sommerserie Großstadtrevier: So ein Fuchs! | |
| Gewieft und gar nicht scheu. Dem Fuchs in Berlin auf der Spur. Er kommt in | |
| der Stadt hervorragend zurecht. Großstadtrevier: Folge 1. |