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# taz.de -- Essay Europäische Union: Gespenster der Demokratie
> Es gibt eine historische Belastung im Süden der EU. Und es gibt eine
> Verantwortung, die alle europäischen Staaten gemeinsam tragen.
Bild: Im Zentrum Athens: Eine Frau kommt aus der U-Bahn-Station Monastiraki. Zw…
Im Spätherbst 1847 schrieben in Brüssel Karl Marx und Friedrich Engels
ihren prophetischen Satz nieder: „Ein Gespenst geht um in Europa – das
Gespenst des Kommunismus.“
Die Idee des Kommunismus erlebte nicht zuletzt aufgrund der
Unvollkommenheiten der bürgerlichen Welt ihren Triumphzug und verwandelte
sich in eine unbesiegbar erscheinende materielle Kraft, eine internationale
Staatsordnung, welche die Hälfte unseres Kontinents dominierte.
Am Ende der achtziger Jahre scheiterte der Kommunismus, er scheiterte an
Europa und verwandelte sich wieder in ein Gespenst, das man höchstens noch
durch Geisterbeschwörung hervorrufen kann. Umso merkwürdiger erscheint die
Tatsache, dass das demokratische Gegenprojekt ein Fiasko nach dem anderen
erleidet.
Dieser Prozess scheint einer gewissen Logik zu gehorchen: Je größer die
geografische Ausdehnung der schönen neuen Welt wird, desto gebrechlicher
und verletzlicher ist die Konstruktion. Die Unterschiedlichkeit der
Interessenlage der einzelnen EU-Länder sowie deren Artikulierung zeigt ein
recht chaotisches Bild, das manchmal selbst Europa als Gespenst erscheinen
lässt.
## Der Geburtsfehler
Am Anfang war der Geburtsfehler. Die Europäische Union integrierte nach und
nach Länder, welche mit dem westlichen Entwicklungstempo in keiner Weise
mithalten konnten und sich meistens erst mit ziemlicher Verspätung das
westliche Wertesystem anzueignen versuchten. Ich möchte hier keineswegs mit
statistischen Daten jonglieren, höchstens einige Vergleiche anstellen.
Nehmen wir als Beispiel den Mindestlohn pro Stunde. In Luxemburg lag dieser
im Jahr 2014 bei 11 Euro (2009 noch bei 9,73 Euro), in Bulgarien bei 1,04
Euro (2009: 71 Cent). Oberflächlich betrachtet könnte man die Sache mit dem
Stoßseufzer „Ach, der arme Ostblock“ erledigen. Nehmen wir aber ein anderes
Kriterium, die Jugendarbeitslosigkeit, dann sehen wir Erstaunliches: Das
steinreiche Luxemburg steht mit 22 Prozent nicht viel besser da als das
kirchenmausarme Bulgarien (29 Prozent). Überhaupt gibt es kein ehemals
sozialistisches Land, in dem diese Ziffer so dramatisch aussieht wie in
Griechenland (57,4), Spanien (55,5) oder Portugal (38,8).
Eine ähnlich weit geöffnete Schere wie beim Mindestlohn zeigt sich in der
EU-Wahlbeteiligung der einzelnen Mitgliedstaaten. Die Luxemburger scheinen
besondere Lust am Urnengang zu haben (90 Prozent) – möglicherweise spielt
aber hier die Wahlpflicht eine Rolle –, während sich die Slowenen und
Slowaken trotz der Zugehörigkeit ihres Landes zur Euroregion lediglich
einer 20- bzw. sogar 13-prozentigen Wahlaktivität rühmen können.
Die Deutung ist keineswegs einfach. Sind etwa Slowenen und Slowaken aus
sozialen Gründen besonders passiv und resigniert? Wenn ja: Warum liegt dann
der Anteil der griechischen Wähler (58,2) hoch über dem europäischen
Durchschnitt (43 Prozent) und in jedem Fall höher als die Beteiligung der
satten und gut beschäftigten Deutschen (47,9)? Freilich könnte man
einwenden, dass in Griechenland Wahlpflicht mit möglicher Geldstrafe
herrsche. Ob man aber die Kinder von Hellas heutzutage damit beeindrucken
kann, steht auf einem anderen Blatt.
## Ein Land im Würgegriff
Auf tagespolitischer Ebene wird die Grexit-Krise als Auseinandersetzung
zwischen einerseits den europäischen Institutionen und Gläubigern,
andererseits der unberechenbaren populistischen Athener Regierung und der
reformunwilligen griechischen Gesellschaft dargestellt. Daran war die
Syriza mit ihrem putschartigen, abenteuerlichen Referendum nicht ganz
unschuldig. Auch das Nein der Wähler trug zu dem Anschein bei, dass hier
eine Kampfabstimmung stattfand.
In Wirklichkeit befand und befindet sich das Land im Würgegriff einer
praktisch unbezahlbaren Schuldenlast, ungefähr so wie seinerzeit die
Staaten des real existierenden Sozialismus am Vorabend ihrer Abkoppelung
von der sowjetischen Nabelschnur. Um sich zu sanieren, mussten sie geradezu
neu geboren werden.
Was Ungarn anbelangt, konnten die Normalbürger schwer begreifen, wieso sie
die Folgen der leichtsinnigen Kreditaufnahmen der Ära Kádár ausbaden
mussten, obwohl diese Anleihen eindeutig ihr bescheidenes, aber stabiles
Lebensniveau garantierten. Sie hörten gerne die Lobeshymnen auf die
Grenzöffnung, auf die Rolle Ungarns als Spitzenreiter der demokratischen
Wende Osteuropas – und fühlten sich dann allein aufgrund des 15 Jahre
langen Klopfens an der Tür der EU um ihre Illusionen betrogen.
Das ohnehin der ungarischen Mentalität innewohnende präventive
Beleidigtsein begünstigte dann Viktor Orbáns Kokettieren mit dem
„ökonomischen Freiheitskrieg“ gegen die EU (selbstverständlich nicht ohne
deren finanzielle Förderung) sowie mit der platonischen Liebe zu Kasachstan
und den pathetischen Reden über den „Untergang des Abendlandes“. Trotzdem
existiert das Problem auch an und für sich.
## Das Erbe der Willkürherrschaft
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die drei südeuropäischen Länder, die
heute als schwache Kettenglieder der EU hervortreten, mit einem ähnlichen
Komplex zu tun haben. Griechenland erlebte nach 1945 einen vernichtenden
Bürgerkrieg und in den späten sechziger Jahren das sadistische
Obristenregime. Die Wiederauferstehung seiner Demokratie im Sommer 1974
löste eine wahre Euphorie aus – man tanzte Sirtaki und sang Theodorakis.
Fast zeitgleich brach die Nelkenrevolution in Lissabon aus, die der
ältesten Diktatur auf dem Kontinent ein jähes Ende setzte. Nach Francos Tod
1975 verendete allmählich und friedlich die spanische
Falangistenherrschaft.
Griechen, Portugiesen und Spanier betrachteten die eigene Befreiung mit
Recht als Beitrag zur europäischen Integration, aber sie trugen in ihrem
Reisegepäck auch das schwierige Erbe der Willkürherrschaft: unmoderne
Dorfstrukturen und wenig ausgereifte zivile Verhaltensmuster. Die
Demokratie verwandelte sich immer wieder in einen Spielplatz von korrupten
Eliten.
Bei den gravierenden Differenzen zwischen den einzelnen Regionen erscheint
jede Erweiterung der EU rein utopisch. Vielmehr geht es um den Zusammenhalt
des Vorhandenen, was nicht zuletzt eine ausgleichende Sozialpolitik und
gemeinsame Linderung der Arbeitslosigkeit voraussetzt. Die zweite Agenda
bezieht sich auf die europäischen, aber von Putins Regime als russischer
Einflussbereich betrachteten Länder, deren demokratische Entwicklung und
innere Autonomie über ökonomische und kulturelle Kontakte gefördert werden
muss.
## Das Drängen der Flüchtlingsfrage
Die dritte Aufgabe, die in der letzten Zeit eine geradezu tragische
Aktualität erhalten hat, ist die humane und rationale Behandlung der
Flüchtlingsfrage, die heute übermäßig auf den südeuropäischen Staaten
lastet. Ohne schnelle Hilfe kann das Phänomen der massenhaften Migration
hysterische Konflikte auslösen, wie zuletzt in Ungarn, wo eine
fremdenfeindliche Kampagne der Regierung ungeahnte aggressive Energien
freigesetzt hat.
Aber zurück zu der beängstigenden Passivität beim Urnengang, die übrigens
in mehreren Ländern auch für Parlaments- und Kommunalwahlen typisch ist.
Diese begünstigt eindeutig diejenigen Parteien, welche über genügend
Medienpräsenz und Finanzmittel verfügen und/oder mit populistischen
Losungen und Versprechungen mehr Protestwähler mobilisieren können.
Noch schwerwiegender ist jedoch die Tatsache, dass in diesen Fällen nicht
die Wähler, sondern diejenigen entscheiden, die aus Gleichgültigkeit oder
Bequemlichkeit ihr grundlegendes demokratisches Recht nicht wahrnehmen
wollen.
25 Jul 2015
## AUTOREN
György Dalos
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