| # taz.de -- Essay Griechenland und EU: So deutsch funktioniert Europa nicht | |
| > Was für ein Europa wollen wir? Doch wohl eines, das auf Gemeinschaft | |
| > setzt. Die deutsche Spartherapie hat versagt. Es ist Zeit, Fehler zu | |
| > korrigieren. | |
| Bild: Die Mehrheit will ein solidarisches Europa, das Schwachen beisteht und ni… | |
| Berlin taz | „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“ Nach | |
| dem Nein der Griechen fliegen so viele Lügen durch die politische | |
| Landschaft, dass man deutsche Spitzenpolitiker und wichtige Meinungsmacher | |
| kurz an den berühmten Satz des Sozialdemokraten Kurt Schumacher erinnern | |
| möchte. Hach ja, die Wirklichkeit. Sie wird im Moment von vielen negiert | |
| und von anderen hemmungslos umgedeutet. So sehr, dass das Ressentiment im | |
| deutschen Diskurs die Oberhand gewinnen könnte. Das aber darf nicht | |
| passieren. | |
| Das Ergebnis des griechischen Referendums ist eben kein Nein zum Euro, wie | |
| die Bild-Zeitung imaginiert. Regierungschef Alexis Tsipras hat mit seinem | |
| Kurs auch nicht „letzte Brücken eingerissen“ für einen Kompromiss, wie | |
| SPD-Chef Sigmar Gabriel beteuert. Und die Regierung Tsipras hat auch keinen | |
| Großbrand in Europa ausgelöst, wie CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer | |
| behauptet, um dann über „linke Geisterfahrer“, „Erpresser“ und | |
| „Volksbelüger“ herzuziehen. | |
| Wirklichkeit? Von wegen. So sieht Propaganda aus, die die Realität für | |
| eigene Interessen instrumentalisiert. Mit politischer Rationalität, gar | |
| Respekt vor anderen Kulturen und demokratischen Gepflogenheiten hat solche | |
| Hetze nichts mehr zu tun. | |
| Die Frage auf den Abstimmungszetteln war präzise formuliert, sie bezog sich | |
| auf die zuletzt angebotenen Sparauflagen der EU-Institutionen – und auf | |
| nichts anders. Gleichzeitig belegen Umfragen, dass eine große Mehrheit der | |
| Griechen in der Eurozone bleiben will. Das bedeutet: Rund 60 Prozent der | |
| Griechen, gerade viele junge Leute, fordern zwar den Stopp der brutalen | |
| Sparpolitik. Sie wollen aber sicher keinen Austritt aus dem Euro. 40 | |
| Prozent der Bürger wären sogar bereit, trotz grassierender Armut noch mehr | |
| Härten hinzunehmen. | |
| Das verschuldete Land ist also gar nicht so zerrissen, wie es scheint. Das | |
| Nein der Griechen ist in Wirklichkeit ein engagiertes Ja. Die Mehrheit will | |
| ein solidarisches Europa, das Schwachen beisteht und niemanden zurücklässt. | |
| Ein Europa, das nicht den Euro, die Börsen und den Markt anbetet, sondern | |
| das auf das Primat der Politik, auf Gemeinschaft und Integration setzt. Mal | |
| ganz vorsichtig gefragt: Wollen wir das nicht alle? Und sollte diese Vision | |
| einem reichen Staatenbund nicht ein paar Milliarden Euro wert sein? | |
| ## Im Kern unpolitisch | |
| Wer die komplizierte Gemengelage als Votum für den Euro-Austritt | |
| interpretiert, handelt verantwortungslos – und im Kern unpolitisch. Von | |
| CSU-Spitzenkräften ist man inzwischen gewohnt, dass sie jenseits der | |
| bayerischen Landesgrenze so dumpf agieren, als gössen sie sich zum | |
| Frühstück fünf Weißbier in den Hals. | |
| Aber dass sich der SPD-Vorsitzende dafür hergibt, Ressentiments zu | |
| bedienen, um nach Prozentpunkten zu haschen, ist fürchterlich. Die deutsche | |
| Sozialdemokratie verleugnet in der Griechenlandfrage ihren Wesenskern, der | |
| ja trotz Agenda 2010 noch etwas mit sozialer Wärme und internationaler | |
| Solidarität zu tun hat. Ob Sigmar Gabriel mit seinem Rechtskurs bei | |
| ängstlichen WählerInnen punkten kann, ist offen. | |
| Aber der identitäre Schaden an seiner Partei wird bleiben, das ist gewiss. | |
| Angesichts der Dramatik des Vorgangs kann einem die SPD allerdings fast | |
| schon wieder egal sein. Was für ein seltsames Demokratieverständnis ist das | |
| eigentlich, eine Volksabstimmung über harte Sparauflagen als Trick oder | |
| Erpressung der EU zu titulieren? Kanzlerin Angela Merkel, Gabriel und | |
| CSU-Granden loben sonst jederzeit die Idee, das Volk stärker mitreden zu | |
| lassen. Gerade in Europafragen wäre mehr Partizipation dringend nötig. | |
| ## Als nackt entlarvt | |
| Viele Menschen hegen das Vorurteil, Brüssel sei ein alltagsferner, | |
| bürokratieversessener Moloch. Aber wenn dann die Regierung eines EU-Staats | |
| ihre Bürger abstimmen lässt, tun dieselben Beteiligten so, als gehe es um | |
| einen Putsch gegen die europäische Idee. Direkte Demokratie tatsächlich | |
| umsetzen, was denken sich diese Frechdachse eigentlich! | |
| Das Charmante an der teils irrlichternden Syriza-Regierung ist ja, dass sie | |
| eingespielte Riten als nackt entlarvt. Tsipras hat mit dem Referendum | |
| radikal mit der bisherigen EU-Logik gebrochen. Die Troika hatte stets mit | |
| wenigen Beteiligten der Regierungen über Auflagen verhandelt. | |
| Unter Ausschluss der Parlamente, nicht im viel bemühten Hinterzimmer, aber | |
| doch nach Kriterien, die kaum einer verstanden hat. Welchen Druck sie dabei | |
| ausübt, wie realitätsfern manche Sparvorschläge sind und wie sehr | |
| Parlamentsrechte dabei ausgehebelt werden, wurde einer breiten | |
| Öffentlichkeit erst durch die Griechenlandkrise bekannt. Für diesen Akt der | |
| Transparenz muss man Tsipras`Linksregierung dankbar sein. | |
| Hinter den Schwaden der Nebelkerzen, die alle Beteiligten werfen, geht | |
| verloren, dass zwei Politikansätze aufeinanderprallen. Die | |
| EU-Institutionen, die deutsche Regierung und die anderer EU-Staaten halten | |
| an dem Diktum fest, eine Volkswirtschaft müsse sich nur marktliberal genug | |
| aufstellen, um zu wachsen. Tsipras und Co. werben für eine keynesianische | |
| Investitionspolitik und einen Schuldenschnitt. | |
| ## Austeritätsdiktum führt in die Irre | |
| Viele harte Fakten sprechen inzwischen dafür, dass der deutsche Weg bei | |
| Griechenland nicht funktioniert. Die Griechen haben ihren Haushalt in den | |
| vergangenen Jahren um gut 30 Prozent gekürzt. Ihre Wirtschaft schrumpfte um | |
| knapp ein Drittel, die Arbeitslosigkeit schoss auf 27 Prozent hoch. Die | |
| Kanzlerin müsste längst realisieren, dass ihr Austeritätsdiktum in die Irre | |
| führt, wenn eine tiefe Rezession und Überschuldung miteinander einhergehen. | |
| Das Betrachten der Wirklichkeit beginnt aber auch nicht in der SPD. Ihr | |
| Vorsitzender räsoniert lieber darüber, dass das Geld deutscher Arbeitnehmer | |
| durch eine dauerhafte Griechenlandsubvention gefährdet wäre. Das stimmt, | |
| ist aber zu einfach. Gabriel sagt nichts dazu, dass ein Austritt aus dem | |
| Euro, der berühmte Grexit, noch teurer käme. Deutschland müsste hohe | |
| zweistellige Milliardenbeiträge sofort abschreiben, Europa schüfe sich ein | |
| Armenhaus vor der Haustür. | |
| Das Schlimmste aber wäre das Signal der Desintegration. Europa wäre dann | |
| kein starker Wirtschaftsraum mehr, der gemeinsame Grundwerte hochhält. | |
| Sondern ein auf Wettbewerb getrimmtes Powerteam, das die Minderleister | |
| erbarmungslos zurücklässt. Zugegeben, es ist nachvollziehbar, dass die | |
| politischen Eliten Europas verärgert sind über das Gebaren der Neulinge aus | |
| Athen. Tsipras und sein Finanzminister haben jede Chance genutzt, um sich | |
| selbst zu diskreditieren. | |
| Es ist eben wenig hilfreich, den Verhandlungspartnern Kriminalität und | |
| Terrorismus vorzuwerfen. Ebenso ist nicht nachvollziehbar, warum sich eine | |
| linke Regierung lange dagegen sperrte, ihren aufgeblasenen Militäretat | |
| zusammenzustreichen. Und das nationalistisch konnotierte Pathos, mit dem | |
| Tsipras sein Wirken auflädt, ist wirklich schwer erträglich. | |
| Aber Wut, Ärger und Frust sind eben keine politischen Kategorien. Sie | |
| führen zu nichts. Gute Politik zeichnet sich dadurch aus, dass sie der | |
| Versuchung der Emotion nicht nachgibt. Die Bundesregierung täte gut daran, | |
| den rationalen Kern zu suchen und zu bewerten, immer und immer wieder. | |
| Zumal die Deutschen in diesem Poker sehr mächtig sind, die Griechen aber | |
| sehr schwach. Wer aus einer Position der Stärke heraus nach unten tritt, | |
| wirkt widerlich, das sollten Gabriel und Scheuer nicht vergessen. | |
| Tsipras agiert dagegen geradezu bestechend rational. Indem er seinen | |
| Finanzminister austauscht, nimmt er die Figur aus dem Spiel, die am meisten | |
| provozierte. Mit Jannis Varoufakis hätten sich die anderen | |
| EU-Finanzminister wohl nicht mehr an einen Tisch gesetzt, mit seinem | |
| Nachfolger werden sie es tun müssen. Tsipras demonstriert Handeln, er | |
| bringt die EU-Institutionen mit der Personalie in Zugzwang. Und die | |
| Europäische Union? | |
| ## So deutsch funktioniert Europa nicht | |
| Die anderen EU-Staaten, allen voran Deutschland, dürfen angesichts dessen | |
| nicht in ihrer Trotzhaltung verharren. Demokratie ernst zu nehmen hieße, | |
| Griechenland neue Verhandlungen anzubieten. Der Kanzlerin wird ja | |
| nachgesagt, schnell zu lernen. Das war innenpolitisch immer ihre Stärke, | |
| bei der Atomkraft, beim Mindestlohn oder in der Familienpolitik. | |
| Angela Merkel hat bisher versucht, die europäische Krise auf sehr deutsche | |
| Art und Weise zu lösen. Sie setzte auf die seltsame und für die | |
| allermeisten Völker völlig unverständliche Ideologie, dass hartes Sparen | |
| ein volkswirtschaftliches Allheilmittel ist. Sie setzte auf | |
| millimeterkleine Schrittchen und auf zähe Verhandlungen wie zwischen | |
| Arbeitgebern und IG Metall. Und sie vertraute darauf, dass sich der | |
| Schwächere in diesem Ringen am Ende fügt. Aber so deutsch funktioniert | |
| Europa nicht. | |
| So ironisch es klingt, die Griechen geben Merkel mit ihrem Nein zum Sparen | |
| die Chance, ihre Fehler zu korrigieren. Helmut Kohl, der noch eine echte | |
| Idee von Europa vertrat, hätte wahrscheinlich schon vor Jahren den | |
| Schuldenschnitt für die Griechen unterschrieben. | |
| 6 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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