# taz.de -- Nach Parlamentswahl in der Türkei: Keine Lust auf mächtigeren Erd… | |
> Liberale Türken und Kurden schöpfen nach der Schlappe der AKP Hoffnung. | |
> Die Regierungspartei kann ihr schlechtes Abschneiden kaum fassen. | |
Bild: Freuen sich besonders über das Wahlergebnis: die HDP-Vorsitzenden Figen … | |
ISTANBUL taz | „Da hast du deine neue Türkei“, jubelte am Montagmorgen | |
Cumhuriyet in Richtung von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Die | |
links-kemalistische Tageszeitung zeigte sich sichtlich erleichtert und | |
hoffnungsvoll, dass nun weniger repressive Zeiten für das Blatt anbrechen. | |
Auch die zweitstärkste Partei in der Türkei, die seit Jahren schwer | |
gebeutelte sozialdemokratisch-kemalistische Republikanische Volkspartei | |
CHP, frohlockte über das schlechte Wahlergebnis der regierenden Partei für | |
Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). | |
Als sich Stunden nach Schließung der Wahllokale weder der abgewählte | |
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu noch der eigentliche AKP-Chef, Präsident | |
Erdogan, in der Öffentlichkeit blicken ließen, spottete der | |
stellvertretende CHP-Chef Haluk Koc bereits vor den Kameras der Weltpresse: | |
„Diejenigen, die schon vor Tagen ihre Triumphrede für den Balkon (der | |
AKP-Parteizentrale) fertig hatten, trauen sich jetzt noch nicht mal mehr | |
ans Fenster.“ | |
Tatsächlich blieb Präsident Erdogan, der in den letzten Wahlkampfwochen | |
täglich mehrere Stunden im Fernsehen zu sehen war, wie vom Erdboden | |
verschluckt. | |
## Rede vom Balkon | |
Stattdessen hielt sein Statthalter, Premier Davutoglu, am späten | |
Sonntagabend vom Balkon der AKP-Zentrale eine Rede, die so surrealistisch | |
war, dass die anderen Parteigranden hinter ihm mit versteinerter Miene | |
zuhörten, ohne einmal zu klatschen. Davutoglu tat, als hätte er einen | |
großen Sieg errungen, weil seine Partei ja nach wie vor die stärkste Partei | |
des Landes sei. Dass die AKP fast 10 Prozent verloren hatte und sich nun | |
entweder einen Koalitionspartner suchen oder eine Minderheitsregierung | |
bilden muss, erwähnte er mit keinem Wort. | |
Umso deutlicher war der eigentliche Gewinner der Wahl, der Spitzenkandidat | |
der linken kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (HDP). „Frieden und | |
Demokratie haben gesiegt“, erklärte Selahattin Demirtas, „das Gespenst | |
einer Präsidialdiktatur ist gebannt.“ | |
Damit brachte Demirtas auf den Punkt, was die regierungskritischen Wähler | |
diesmal am meisten bewegt hatte: Wie können wir verhindern, dass Erdogan | |
sich eine passende Verfassung für seine „Neue Türkei“ bastelt, die ihn | |
selbst zum Alleinherrscher auf Zeit macht? Antwort: die kleine linke HDP | |
wählen. Diese war bislang nur mit mehreren, formal unabhängigen Kandidaten | |
vertreten. Nur wenn die HDP es schaffte, als Partei die undemokratisch hohe | |
Hürde von 10 Prozent zu überwinden und ins Parlament einzuziehen, würde sie | |
so viele Abgeordnete bekommen, dass die AKP ihre absolute Mehrheit verliert | |
und auf keinen Fall mehr eine verfassungsändernde Mehrheit erreicht. | |
## Mit Leihstimmen der Sozialdemokraten | |
Daher stimmten viele Wähler, die bislang die HDP als rein ethnische | |
Vertretung der Kurden abgelehnt hatten, diesmal für sie. Die Partei brachte | |
es damit auf sensationelle 13 Prozent und 79 Abgeordnete. Demirtas bedankte | |
sich denn auch für die Leihstimmen und versprach, dass die HDP sich für die | |
gesamte Türkei einsetzen und nicht nur die Interessen der Kurden in den | |
Mittelpunkt stellen werde. | |
Die Leihstimmen für die HDP kamen vorwiegend aus dem linken und | |
linksliberalen Lager und gingen so vor allem auf Kosten der | |
sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, die bei 25 Prozent blieb. | |
Die AKP hingegen hat in alle Richtungen verloren: Viele konservative, | |
religiöse Kurden, die zuletzt noch AKP gewählt hatten, votierten jetzt | |
trotz aller Bedenken für die säkulare HDP. Grund: Erdogan hatte sie maßlos | |
enttäuscht, als er der um seine Existenz kämpfenden kurdischen Stadt Kobani | |
jenseits der Grenze zu Syrien jede Hilfe verweigerte und stattdessen | |
indirekt die Terrortruppe des „Islamischen Staats“ unterstützte. | |
Auch bei den Nationalisten verlor Erdogan wegen der Kurdenfrage: aber | |
nicht, weil er Kobani dem IS überlassen wollte, sondern weil er in | |
Gesprächen mit dem inhaftierten Kurdenführer Abdullah Öcalan eine | |
politische Lösung des Konflikts ausloten ließ. Viele Nationalisten sahen | |
darin einen „Verrat an der Einheit des Staats“. Daher wählten sie nun | |
gleich die ultranationalistische Partei der Nationalistischen Bewegung MHP, | |
die von 13 auf 16 Prozent zulegen konnte. | |
## „Präsidialsystem“ als Wahlkampfziel | |
Die größte Last bürdete Erdogan seinem Premier Davutoglu aber mit dem | |
Wahlziel „Präsidialsystem“ auf: Davutoglu sollte für eine neue Verfassung | |
kämpfen, in der er selbst als Premier abgeschafft werden würde. Kein | |
Wunder, dass er dies nur mit zusammengebissenen Zähnen tat. Allerdings | |
konnten sich auch die meisten AKP-Wähler in Umfragen nicht für Erdogans | |
Präsidialdiktatur begeistern. | |
Selbst wenn die türkische Demokratie oft nur unzulänglich funktioniert, | |
wollen die meisten Leute ihre Rechte doch nicht freiwillig an einen | |
allmächtigen Führer abtreten – auch nicht an Erdogan, den viele seiner | |
Anhänger abgöttisch verehren. | |
Deshalb müsste die AKP sich jetzt einen Koalitionspartner suchen. Die | |
rechte MHP stünde im Prinzip bereit: Wir können uns eine Koalition | |
vorstellen, deutete MHP-Chef Devlet Bahceli an. Bedingung: Erdogan müsse | |
bereit sein, sich zurückzunehmen und aus der praktischen Politik | |
herauszuhalten. | |
Doch Erdogan, der sich gerade noch als allmächtiger Präsident gesehen | |
hatte, kann offenbar noch nicht glauben, dass die Wähler ihn als großen | |
Zampano wirklich satt haben. Obwohl er am Montag in einer schriftlichen | |
Stellungnahme orakelte, alle Parteien müssten sich jetzt verantwortlich | |
verhalten, ließ er gleichzeitig die ihm nahestehende Zeitung Yeni Safak | |
verkünden: „Die Botschaft der Wahlen lautet Neuwahlen.“ | |
Wenn die Gremien der AKP es jetzt nicht schaffen, ihren Übervater Erdogan | |
in die Schranken zu weisen, wird es nach einigen turbulenten Monaten in | |
diesem Herbst wohl noch einmal Wahlen geben. | |
8 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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