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# taz.de -- Parlamentswahlen Türkei: Die kurdische Herausforderung
> Saruhan Oluc kandidiert für die HDP in Antalya. Er steht für eine Öffnung
> der Partei – und für einen erhofften politischen Umbruch.
Bild: Unterstützer der HDP bei einer Kundgebung in Istanbul Ende Mai.
ANTALYA taz | „Ich spreche kein Kurdisch, warum sollte ich also die HDP
wählen?“ Skeptisch beäugt der Besitzer eines Miederwarengeschäfts an einer
der Hauptstraßen in Antalya den untersetzten, weißhaarigen Mann, der da vor
ihm steht und ihm nahelegen will, bei den Wahlen am kommenden Wochenende
sein Kreuz bei seiner Partei zu machen.
Aus der demonstrativen Ablehnung wird plötzlich Neugier, als Saruhan Oluc
ihm offenbart: „Ich bin auch kein Kurde. Und Kurdisch spreche ich auch
nicht.“
Warum er denn dann als Spitzenkandidat für die HDP kandidiere, will der
Ladenbesitzer wissen. Und schon befinden sich die beiden in einem Gespräch
über die Probleme der Türkei und wie sie vielleicht gelöst werden können.
Saruhan Oluc, 61 Jahre alt, ein Politprofi aus Istanbul, ist geübt darin,
gewohnte Sichtweisen und Denkmuster aufzubrechen.
In den 1980er Jahren gehörte er zu den Mitgründern der linken ÖPD, die sich
nach diversen Spaltungen vor zwei Jahren dazu entschloss, gemeinsam mit der
damaligen kurdischen BDP die HDP zu gründen, die sich seitdem an die
gesamte Wählerschaft der Türkei wendet. „Geben Sie uns eine Chance“,
verabschiedet sich Oluc von dem Geschäftsmann, „das wird zum Frieden im
Land beitragen und verhindern, dass Präsident Erdogan vollends zum Diktator
wird.“ Der Mann will es sich überlegen.
## Die ewige Kurdenfrage
Seit Wochen zieht Saruhan Oluc nun mit dieser Botschaft durch Antalya: Wer
die Allmachtfantasien von Recep Tayyip Erdogan stoppen will, muss der
kurdischen HDP über die undemokratische 10-Prozent-Hürde helfen. Und wer
Frieden im Land will, muss außerdem die HDP als Verhandlungspartner der
Regierung unterstützen. „Ohne die HDP kann die kurdische Frage nicht gelöst
werden“, sagt Oluc, „und ohne eine Lösung der kurdischen Frage wird es in
der Türkei keinen demokratischen Fortschritt geben.“ Das ist sein Credo.
Im Mai ist es im südlichen Antalya bereits sommerlich warm, der
Straßenwahlkampf ist eine schweißtreibende Angelegenheit. Doch Oluc macht
es Spaß, mit Menschen zu reden. Sein Team ist hoch motiviert, die
HelferInnen verteilen überall Flyer und fragen bei den Ladenbesitzern
vorher an, ob ihr Spitzenkandidat zu einem Gespräch willkommen sei. So
schafft Oluc in drei bis vier Stunden fast fünfzig Begegnungen.
„Das persönliche Gespräch ist sicher nicht allein ausschlaggebend für die
Wahlentscheidung“, sagt er, aber die Leute hörten sich seine Argumente
bereitwillig an. „Da viele Medien und vor allem viele TV-Stationen von der
Regierung kontrolliert werden, zählt die persönliche Begegnung.“
Auch wenn er aus Istanbul kommt, Saruhan Oluc passt gut nach Antalya. Die
boomende Mittelmeermetropole mit ihren zwei Millionen Einwohnern ist
kosmopolitisch und hat eine stabile Mittelschicht, die überwiegend säkular
ausgerichtet ist. Hier hatte lange die kemalistisch-sozialdemokratische CHP
die Nase vorn. Erst durch Veränderungen der Wahlkreise und die Einbeziehung
vieler Dörfer in der Umgebung hat die islamische AKP von Präsident Erdogan
bei den Kommunalwahlen im Frühjahr letzten Jahres die CHP ganz knapp
schlagen können und stellt jetzt den Bürgermeister von Antalya.
Saruhan Oluc ist ein klassischer Vertreter der säkularen Mittelschicht und
kann deshalb bei vielen Bürgern punkten. Er ist Absolvent einer Istanbuler
Eliteschule und hat als Bauingenieur einen respektablen Beruf. „Ich
registriere täglich eine Normalisierung im Umgang mit uns“, sagt Oluc. Die
Propaganda der Regierung, dass die HDP doch nur ein Anhängsel der
kurdischen Terrororganisation PKK sei, ziehe bei vielen Leuten nicht mehr.
„Für viele Wähler ist die HDP mittlerweile ein legitimer Teil des
türkischen Parteienspektrums. „Das hat mich wirklich positiv überrascht.“
## Keine ethnische Beschränkung
Dass sich Menschen wie Saruhan Oluc der HDP angeschlossen und so die
ethnische Beschränkung der „Kurdenpartei“ aufgeweicht haben, trägt sicher
ganz wesentlich zu dieser Normalisierung bei. Noch schwerer aber wiegt,
dass ausgerechnet die HDP in diesem Wahlkampf 2015 zum Zünglein an der
Waage werden könnte. Das türkische Wahlsystem bringt es mit sich, dass eine
Partei, die die 10-Prozent-Hürde und damit den Einzug ins Parlament
schafft, auf einen Schlag knapp 60 Abgeordnete bekommt.
Sollte die HDP also mindestens 10 Prozent bekommen, würde das die Zahl der
Sitze der stärksten Partei, der AKP, schmälern, die immer am stärksten von
den verlorenen Stimmen der unter 10 Prozent gebliebenen Parteien profitiert
hat. Gäbe es vier statt der bislang drei Parteien, brauchte sie weit mehr
Stimmen als bisher, um die Zahl ihrer Sitze halten zu können.
„Die große Begeisterung, die Erdogan und seine AKP zehn Jahre lang getragen
hat, ist vorüber“, stellt Saruhan Oluc fest. Gerade kommt er von einem
Treffen mit dem Tourismusverband zurück. „Dass sich die Wirtschaftsverbände
in Antalya für uns interessieren, wäre bei der letzten Wahl noch undenkbar
gewesen.“
Die türkische Tourismusindustrie ist alarmiert: Die Zahl der Besucher
sinkt. Die Zahl der russischen Touristen, die im letzten Jahr mit 3,5
Millionen vor 3 Millionen Deutschen noch die größte Besuchergruppe
bildeten, hat sich sogar halbiert, aber auch die Buchungen aus Westeuropa
sind rückläufig. „Erdogan wird nicht mehr als Garant eines weiteren
Wirtschaftsaufschwungs gesehen“, resümiert Oluc seine Gespräche. „Im
Gegenteil: Im Tourismusgeschäft mit Europa wird sein Image mittlerweile
sogar zu einer Belastung.“
## Präsenz zeigen
Das Hauptwahlkampfbüro der HDP in Antalya liegt gegenüber einem der größten
innerstädtischen Einkaufszentren. Es herrscht reges Kommen und Gehen in der
Parteizentrale. Während sich in der einen Ecke die traditionellen
kurdischen Kämpfer unter den Märtyrerbildern der gefallenen PKK-Guerilleros
versammeln – politisch sind sie derzeit kaltgestellt –, holen sich im
Zimmer nebenan junge türkische Frauen Wahlkampfmaterial ab, das sie in der
Fußgängerzone verteilen wollen.
Trotz der Anschläge in Adana und Mersin, wo Bombenattentate auf die
Wahlkampfbüros der HDP verübt wurden, wollen sie sich nicht abschotten.
„Jeder soll ungehindert bei uns reinkommen können“, sagt Oluc. Und
tatsächlich schauen viele vorbei und fragen nach, wie sie helfen können.
Einer davon ist Hüseyin Görbüz. Der 50-jährige Mann ist erst vor einem Jahr
aus Hamburg hierhergezogen und hat sich noch nicht entschieden, ob er
bleiben will. „Das hängt für mich davon ab, ob wir Erdogan stoppen können.
Wenn die Türkei zu einer Erdogan-Diktatur wird, gehe ich zurück nach
Deutschland.“ Hüseyin Görbüz ist wie Saruhan Oluc kein Kurde, er ist nicht
mal Mitglied der HDP, sondern der deutschen DKP. „Aber die HDP“, sagt er,
„ist die einzige Partei, die verhindern kann, dass die Türkei zu einer Art
kasachischer One-Man-Show wird.
Schafft die HDP den Sprung ins Parlament, kann Erdogan seine
verfassungsändernde Mehrheit vergessen.“ Mit einer Zweidrittelmehrheit
könnte Tayyip Erdogan eine neue Verfassung und damit ein auf ihn
zugeschnittenes Präsidialsystem durchbringen. Dieser Gedanke mobilisiert
viele Regierungsgegner.
## Deutschtürkische Helfer
Hüseyin Görbüz ist nicht der einzige Deutschtürke, der sich für die HDP
engagiert. Auch die Nummer zwei auf der Kandidatenliste, sozusagen die
weibliche Spitze der Partei in der Stadt am Mittelmeer, kommt aus
Deutschland. Deniz Yilderim hat jahrzehntelang in Dortmund gelebt und in
Deutschland studiert. Sie arbeitet jetzt als Anwältin in Antalya, fühlt
sich Dortmund aber nach wie vor verbunden.
„Obwohl wir kein Geld für große Plakataktionen oder gar Fernsehwerbung
haben, kennen uns die Leute“, sagt sie enthusiastisch. „Ich werde schon auf
der Straße angesprochen.“ Deniz Yilderim bereitet sich auf ihren bislang
größten Auftritt im Wahlkampf vor. Am Nachmittag soll der nationale
Spitzenkandidat der HDP, der charismatische Selahattin Demirtas, zur
Großkundgebung nach Antalya kommen.
Wie andere Kurdinnen im Wahlkampfteam hat Yilderim für diesen Auftritt ein
traditionelles buntes Kleid angezogen und fiebert ihrem Auftritt entgegen.
Zusammen mit Oluc und den anderen Kandidaten der HDP wird sie Demirtas mit
einem Autokonvoi entgegenfahren, um ihn an der Stadtgrenze in Empfang zu
nehmen.
Die Kundgebung ist für 16 Uhr in einem Außenbezirk von Antalya angesetzt –
zu früh für die arbeitende Bevölkerung, der Platz füllt sich nur langsam.
Doch als Saruhan Oluc um 17 Uhr als Lokalmatador und Anheizer für Demirtas
das Mikro ergreift, ist der Platz bereits gut gefüllt. Das Publikum besteht
überwiegend aus kurdischen Zuwandererfamilien, die sich als Saisonarbeiter
in den Treibhäusern im Umland oder als Servicepersonal im Tourismus ihr
schmales Einkommen verdienen.
## Die neue Hoffnung
Hier sind andere Qualitäten gefragt als im Gespräch mit den
Geschäftsinhabern oder saturierten Bürgern der Stadt. Doch Saruhan Oluc,
der differenziert argumentierende Intellektuelle aus Istanbul, versteht
sich auch auf dröhnende Wahlkampfrhetorik. Als er nach zehn Minuten das
Mikro an Selahattin Demirtas, den großen Star der HDP, weiterreicht, ist
die Menge aufnahmebereit für dessen Botschaften. Demirtas wird bereits als
der Tsipras der Türkei gehandelt. Er ist jung, schlagfertig und witzig und
trägt damit ebenfalls dazu bei, der HDP neue Wählerschichten zu
erschließen.
Knapp 30.000 Leute sind gekommen, Saruhan Oluc ist anschließend sehr
zufrieden. „Die Stimmung ist auf unserer Seite. Wenn es nicht in den
letzten Tagen vor der Wahl noch zu einem schlimmen Zwischenfall kommt und
wenn es keine größeren Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen gibt,
sollten wir es schaffen: Wir können Erdogan stoppen.“
Oluc selbst braucht ungefähr 80.000 Stimmen, um einer von 14 Abgeordneten
zu werden, die die Provinz Antalya ins Parlament nach Ankara schickt. Auch
das sollte zu schaffen sein. „Wäre doch klasse, die nächsten vier Jahre
einen Wahlkreis am Mittelmeer zu haben.“ Und auch Hüseyin Görbüz und Deniz
Yilderim würden der Türkei nicht den Rücken kehren.
5 Jun 2015
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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