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# taz.de -- Prokurdische Partei bei der Türkei-Wahl: Die Mini-Revolution
> Selahattin Demirtas ist Erdogans gefährlichster Gegner. Selbst wenn seine
> Partei nicht ins Parlament einzieht: Er zeigt, dass Politik auch sachlich
> geht.
Bild: Charismatisch, scharfzüngig und dennoch beherrscht: Selahattin Demirtas.
Istanbul taz | „Die Revolution war einst eine Wahrscheinlichkeit, und sie
war sehr schön“, lautet einer der ersten Sätze in dem Roman „Zorn“ des
türkischen Schriftstellers Murat Uyurkulak. Der Erfolgsautor schreibt in
seinem Erstlingswerk über die Unterdrückung der kurdischen Minderheit und
über deren Unabhängigkeitskampf im Südosten des Landes. Dass nun
ausgerechnet ein Kurde den mächtigsten Mann der Türkei unter Druck setzt,
hätte sich bei Erscheinen des Buchs im Jahre 2002 wohl niemand gedacht, am
wenigsten Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
Denn egal, wie die türkischen Parlamentswahlen am heutigen Sonntag ausgehen
werden, schon jetzt ist klar: Eine kleine, nie für möglich gehaltene
Revolution ist Realität geworden. Selahattin Demirtas, der kurdische
Spitzenpolitiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP), ist die größte
Gefahr für Erdogans Allmachtsfantasien.
„Wollen wir ein Land mit einem Präsidenten, der uns Richtung Diktatur
führt?“, rief Demirtas kürzlich bei einer Wahlveranstaltung in Sanliurfa,
einer Provinzhauptstadt nahe der syrischen Grenze, in die jubelnde Menge.
„Oder wollt ihr ein Land, in dem Minderheiten, Arme, Arbeiter, alle Ethnien
eine Stimme haben?“ Unter dem Wahlslogan „Büyük Insanlik“ (“Die große
Menschlichkeit“) hat sich die HDP vorgenommen, am Wochenende die
Zehnprozenthürde zu überspringen und damit den Einzug ins Parlament in
Ankara zu schaffen. In Umfragen liegen die prokurdischen Linken mal knapp
unter zehn Prozent, mal knapp darüber.
Sollte es die HDP tatsächlich schaffen, ins Parlament einzuziehen, dürfte
es für die AKP unmöglich werden, die notwendige Mehrheit für eine geplante
Verfassungsänderung zu erhalten, mit der eine von Erdogan beherrschte
Präsidialrepublik erschaffen werden soll. Innerhalb kürzester Zeit ist die
Partei, die erst im Jahr 2012 von gemäßigten linken, überwiegend kurdischen
Gruppen gegründet worden war, so zum Albtraum der AKP-Regierung geworden.
Und Erdogan steht sichtlich unter Druck, sein Wahlkampf konzentriert sich
seit Wochen nur auf eines: die Denunziation der HDP-Spitze, Selahattin
Demirtas’.
## Nähe zur PKK
„Wer einen Machtzuwachs von Erdogan verhindern will, muss die HDP wählen“,
lautet deswegen so ein Satz, den Demirtas immer und immer wieder sagt. Der
1973 in Palu geborene Menschenrechtsanwalt ist zwar Teil einer Doppelspitze
– laut HDP-Parteistatut müssen Spitzenämter mit einem Mann und einer Frau
besetzt werden – und die Kovorsitzende Figen Yüksekdag auch auf allen
Wahlplakaten neben ihm zu sehen, doch Demirtas ist die alles überstrahlende
Figur.
Das liegt zum einen an der patriarchalen Struktur der türkischen
Gesellschaft, in der Frauen in der Politik noch immer eher gering vertreten
sind. Zum anderen aber auch daran, dass der 42-Jährige unvergleichlich
charismatisch, scharfzüngig und dennoch beherrscht auftritt. Erst letzte
Woche saß Demirtas singend mit einer Baglama in einer Livesendung im
Fernsehen, umschrieb die Politik der aktuellen Regierung mit Filmzitaten
aus türkischen Sozialsatireklassikern – das bringt Sympathien ein und ist
geradezu gegenteilig zur Präsentation seines Widersachers Erdogan, der als
brüllend-verbiesterter Wahlkämpfer durch das Land zieht, vor „gottlosen
Politikern“ warnt und mit dem Koran in der Hand wedelt, als sei der eine
Parteibroschüre.
Demirtas nimmt es gelassen. Er präsentiert sich als Muslim, dessen Glaube
Privatsache ist. Auf seinen Wahllisten finden sich Jesiden, arabische
Türken, Aleviten, Armenier, Aramäer, Roma und offen homosexuelle
Kandidaten. Aber auch Dilek Öcalan, die Nichte des inhaftierten
PKK-Gründers Abdullah Öcalan, kandidiert für die HDP – und eben das ist das
größte Problem der Partei. Auch wenn die HDP selbst sich als Vermittler im
türkisch-kurdischen Friedensprozess darstellt, bietet die offensichtliche
Nähe zu der kurdischen Terrororganisation eine Angriffsfläche. Viele Türken
sind deshalb misstrauisch. Die Erinnerungen an die mehr als 40.000 Toten in
diesem Konflikt sind noch zu frisch. Erst im vergangenen Jahr, während des
Gefechts um das syrische Kobani, drohte die PKK mit einem Ende der seit
2013 geltenden Waffenruhe. Und auch Demirtas erzählte einst in einem
Interview, er habe als junger Mann damit geliebäugelt, der PKK beizutreten.
## Arbeit für Menschenrechte
In seiner Jugend habe er miterlebt, wie Soldaten willkürlich Kurden
misshandelten und sein Bruder nach der Teilnahme an einer Demo wegen
angeblicher Mitgliedschaft in der PKK zu mehreren Jahren Haft verurteilt
worden war. Da sich seine Familie keinen Rechtsbeistand leisten konnte,
entschied sich Selahattin Demirtas dazu, Jura zu studieren. Er arbeitete
für eine Menschenrechtsorganisation und ging schließlich in die Politik.
Um von dem Image einer reinen Kurdenpartei wegzukommen, richtet sich die
HDP nun vor allem an religiöse, ethnische und sexuelle Minderheiten sowie
sozial Schwache. Frauenrechte und sexuelle Selbstbestimmung sind zentrale
Wahlkampfthemen – ein Novum in der türkischen Politik. Deutlich mehr
Stimmen dürfte es aber einbringen, dass die Partei die Lücke einer
attraktiven Alternative zu der in vielen Punkten durchaus erfolgreichen AKP
schließt. Denn die Stärke der AKP ist auch der Schwäche der Opposition
geschuldet.
Seit ihrem Machtantritt 2002 konnte die islamisch-konservative
Regierungspartei drei Parlamentswahlen in Folge gewinnen und dabei jeweils
ihren Stimmenanteil erhöhen. Die zwei wichtigsten Oppositionsparteien, die
sozialdemokratisch-kemalistische CHP und die ultranationalistische MHP,
haben in den letzten Jahren nichts anderes getan, als sich an Erdogan
abzuarbeiten. So gilt die HDP als erste Partei, deren Parteiprogramm einen
überzeugenden Weg für eine Post-Erdogan-Ära aufzuzeigen imstande ist.
Als Demirtas im vergangenen Jahr die große politische Bühne betrat, indem
er bei den Präsidentschaftswahlen Erdogan herausforderte, war zwar klar,
wer das Rennen machen würde. Doch erzielte Demirtas mit 9,8 Prozent einen
unerwarteten Achtungserfolg. Sollte es der HDP nun gelingen, noch 0,2
Prozent draufzulegen, wird dies der Beginn einer neuen politischen Ära
sein. Aber auch wenn sie es nicht schaffen sollte, hat Demirtas bereits
eines geschafft: Er hat gezeigt, dass Politik auch sachlich geht – für die
Türkei ist das eine kleine Revolution, angestoßen von einem Kurden.
7 Jun 2015
## AUTOREN
Cigdem Akyol
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