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# taz.de -- Einzelkämpferinnen: Nicht einsam, eher frei
> Seit 100 Tagen sitzen Nebahat Güçlü und Dora Heyenn fraktionslos im
> Parlament. Ein Gespräch über weniger Rechte und Ex-Kollegen, die nicht
> mehr grüßen.
Bild: Nicht einsam, eher frei, wenn auch in letzter Reihe: die fraktionslosen B…
taz: Frau Güçlü, Frau Heyenn, seit 100 Tagen sitzen Sie beide als
Fraktionslose in der Hamburger Bürgerschaft- fühlen Sie sich einsam?
Dora Heyenn: Nein. In einer Fraktion kann man sich gelegentlich einsam
fühlen, aber jetzt … nein.
Nebahat Güçlü: Anfänglich war es etwas schwierig, aber das hat sich
gegeben. Es ist jetzt eher ein Gefühl von Freiheit, nur nach meinem
Gewissen handeln zu können und das zu tun, was ich politisch für richtig
halte. Das ist ein Gewinn.
Also ohne Fraktionszwang.
Güçlü: Ja, man muss nicht mehr aus Loyalität zur Fraktion etwas mittragen,
was man eigentlich nicht richtig findet.
Frau Heyenn, ist es nicht gerade für Sie ein besonders tiefer Fall – von
der langjährigen Fraktionsvorsitzenden zur Einzelkämpferin. Gibt es da
nicht einen Bedeutungsverlust?
Heyenn: Das empfinde ich nicht so. Das Amt als Fraktionschefin darf man
auch nicht überbewerten. Es ist nicht so, dass ich in ein Loch gefallen
wäre, gar nicht.
Und wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren jeweiligen Ex-Fraktionen? Werden Sie
noch gegrüßt?
Güçlü: Das ist schon von den Personen abhängig. Der menschliche Kontakt ist
zu zwei, drei Leuten aus der grünen Fraktion noch da, mit den anderen eher
nicht. Da ist Funkstille. Bei der ersten Bürgerschaftssitzung im März war
ich sehr überrascht, wie herzlich aber Abgeordnete aus anderen Fraktionen,
die mich noch von früher kannten, mich begrüßten und mir den Wiedereinstieg
erleichtert haben. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Heyenn: Wir grüßen uns, klar. Und mit einigen Abgeordneten der Linken gibt
es auch eine politische Zusammenarbeit. Aber das ist punktuell und von den
Personen abhängig. In einem Fall wollten ein Abgeordneter der Linksfraktion
und ich eine gemeinsame Presseerklärung herausgeben, das hat dann aber der
Fraktionsvorstand der Linken verhindert. Haben wir eben zwei einzelne
Pressemitteilungen gemacht.
Aber angeblich stehen die Türen bei den Linken für Sie weiterhin offen.
Heyenn: Das ganze Gerede, wieder mit mir sprechen zu wollen, dass ich gerne
zurückkommen könne, das ist doch Getue. Dazu ist die Distanz in
Wirklichkeit viel zu groß.
Aber die Linke beklatscht Ihre Reden in der Bürgerschaft meist demonstrativ
und lautstark.
Heyenn: Ich frage mich auch, warum.
Güçlü: Vielleicht haben die ein schlechtes Gewissen?
Heyenn: Einige vielleicht, von allen glaube ich das nicht.
Aber einige Linke würden Sie doch gerne zurückhaben?
Heyenn: An der Basis ja. Da habe ich immer noch Termine in den
Ortsvereinen, ich bin ja auch weiterhin in der Partei.
Gibt es denn einen Weg zurück für Sie?
Heyenn: Zur Zeit nein.
Güçlü: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Werte wie Menschlichkeit oder
Solidarität in der Politik immer mehr an Bedeutung verlieren.
Gibt es für Sie einen Weg zurück zu den Grünen?
Güçlü: Die Frage stellt sich nicht.
Aber die taz stellt sie.
Güçlü: Ich lebe vorwärts. Ich bin und bleibe ein politischer Mensch, im
Parlament und außerhalb, mit oder ohne Partei. Einen Weg zurück zu den
Grünen sehe ich nicht.
Wie durchsetzungsfähig ist man im Parlament als fraktionslose
Einzelkämpferin?
Güçlü: Man ist schon etwas beschränkt. Ich darf keine Debatten anmelden und
keine Anträge stellen, Dora darf das auch nicht. Wir dürfen Kleine Anfragen
an den Senat stellen, aber keine Großen. In zwei Ausschüssen dürfen wir
mitarbeiten, haben dort aber kein Stimmrecht. In Bürgerschaftssitzungen
dürfen wir fünf Minuten in der Aktuellen Stunde sprechen und fünf Minuten
in den Debatten.
Sind Sie faktisch Abgeordnete zweiter Klasse?
Heyenn: Ja, schon, aber es gibt viel politischen Spielraum.
Güçlü: Ist leider so, weil wir in unseren Möglichkeiten beschnitten werden.
Also doch ein Bedeutungsverlust?
Heyenn: Persönlich nicht, aber man hat eben weniger Rechte. Die Frage ist,
ob das so bleiben muss.
Güçlü: Aber das wussten wir ja vorher. Und in den Medien kommt man auch nur
noch sehr selten vor.
Dieses Interview beweist das Gegenteil.
Güçlü: Danke.
Heyenn: Ich sehe das auch so, und meine Pressemitteilungen werden
regelmäßig veröffentlicht. Da kann ich mich nicht beschweren.
Sie erwähnten vorhin die größere Freiheit für politische Entscheidungen,
auch bei Abstimmungen. Bei der Wahl von SPD-Bürgermeister Olaf Scholz und
des rot-grünen Senats im April gab es mehr Ja-Stimmen, als SPD und Grüne
Abgeordnete haben. Haben vielleicht Sie für diese Koalition gestimmt?
Heyenn: Ich nicht. Olaf Scholz ist der Architekt der Agenda 2010, wegen der
ich aus der SPD ausgetreten bin. Für mich ist er nicht wählbar. Und die
rot-grünen SenatorInnen auch nicht.
Güçlü: Ich habe beide gewählt.
Den Bürgermeister? Und anschließend auch den Senat?
Güçlü: Ja, beide. Leider kann man bei den SenatorInnen nur alle akzeptieren
oder keinen. Sonst hätte ich nur die SPD-SenatorInnen gewählt, die Grünen
aber nicht.
Warum haben Sie das getan?
Güçlü: Es gab erstens keine Alternative. Und außerdem will ich keine
Fundamentalopposition machen, sondern konstruktiv mitarbeiten. Das ist ja
meine Freiheit: Ich kann einem Antrag der Linken zustimmen, wenn ich ihn
für richtig halte, ich kann bei der FDP klatschen, wenn jemand eine gute
Rede zum Beispiel über Bürgerrechte oder Datenschutz hält, ich kann auch
der rot-grünen Koalition zustimmen, wenn sie mal was richtig macht. Ich
gehe das rein inhaltlich an.
Frau Güçlü, wie bewerten Sie den Sturz von Dora Heyenn durch die
Linksfraktion?
Güçlü: Es hat mich traurig gemacht, dass eine Fraktion mit ihrer
langjährigen, hoch engagierten und profilierten Vorsitzenden so umgeht.
Menschlich war das eine ganz miese Nummer. Was ich vorhin schon sagte: Der
Umgang untereinander in der Politik wird immer schlimmer. Und Dank darfst
Du für nichts erwarten.
Heyenn: Dankbarkeit gibt es da nicht. Gerade in der Linkspartei heißt es ja
immer, wir sind die Partei der Menschlichkeit und der Solidarität und so.
Und dann begeht die Fraktion Wählerbetrug. Danach habe ich hunderte Mails
bekommen und alle waren darüber entsetzt.
Frau Heyenn, wie bewerten Sie die Auseinandersetzung in den Grünen um
Nebahat Güçlü?
Heyenn: Ich habe das gar nicht verstanden, wie man wegen diesem einen
Auftritt so ein Theater veranstalten kann. Ich hatte sofort den Eindruck,
dass das für einige nur ein Vorwand war, um Nebahat loszuwerden und aus der
Partei zu werfen. Sachlich gab es für so ein hartes Vorgehen keine
Begründung.
Aber ihr Auftritt vor diesem rechtsnationalistischen türkischen Verein war
ein Fehler, Frau Güçlü, oder?
Güçlü: Darüber kann man in der Tat streiten. Aber mich sofort aus der
Partei werfen zu wollen, ist ein Beleg dafür, dass Animositäten
dahinterstecken. Das Ausschlussverfahren ist ja auch gescheitert, das
Parteischiedsgericht hat mich gerügt, fertig. Aber: Ich mache seit 30
Jahren in Hamburg antirassistische und multikulturelle Arbeit, ich war zehn
Jahre Mitglied der Grünen und zwei Legislaturperioden Abgeordnete in der
Bürgerschaft – da ist es das Mindeste, dass man offen und meinetwegen
kontrovers mit mir diskutiert, statt gleich mit der ganz großen Keule zu
kommen.
Aber wenigstens Sie beide reden offenbar miteinander?
Heyenn: Klar.
Güçlü: Ja, natürlich. Ich schätze Dora sehr, auch früher schon, als ich
Vizepräsidentin der Bürgerschaft war und sie Fraktionsvorsitzende.
Heyenn: Danke gleichfalls. Schon damals haben wir oft und gut
zusammengearbeitet, jetzt tun wir das wieder.
7 Jun 2015
## AUTOREN
Sven-Michael Veit
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