Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Piratenpartei: Wurstig, nicht diskussionsfreudig
> Viele Mitglieder der Piratenpartei sind destruktiver als die frühen
> Grünen. Wenn sie für Wähler interessant bleiben will, muss sie
> langweiliger werden.
Bild: Die sympathische Ergebnisoffenheit der Piraten hat sich verbraucht.
Politiker müssen leidensfähige Menschen sein. Sie sollen ihre Meinungen
immer aufs Neue bilden, begründen und gegen heftige Widerstände
durchsetzen. Zum Lohn erhalten sie mal mehr, mal weniger Macht. Nur bei den
Piraten dürfen Funktionäre weder eine eigene Meinung noch Macht besitzen.
Sie sollen eigenschaftslose Sprachrohre der Schwarmweisheit sein. Dies
schreckt Aktivisten ebenso ab wie Wähler, die politische Inhalte nun mal
mit Gesichtern verbinden.
Es ist einer der vielen Konstruktionsfehler der jungen Partei. Sie droht an
ihnen zugrunde zu gehen. Dabei haben die Piraten die Chance, sich im
Parteienspektrum zu etablieren: Wollen sie für Wähler interessant bleiben,
müssen sie langweiliger werden.
Die Piraten sind die erste Partei, für die ein Medium die Botschaft ist.
Mit großen und daher vagen Versprechen sind sie in vier Landtage
eingezogen. „Transparenz“, „Basisdemokratie“ und „Schwarmintelligenz�…
sollen, verbunden mit den Kommunikationskanälen des Internets, die
Demokratie umkrempeln. Was genau das heißen soll? Das findet sich. Bei den
Piraten folgt der Inhalt der Form, nicht umgekehrt. Aber auf Inhalte warten
potenzielle Wähler bis heute.
Seit ihrer Gründung im Jahr 2006 haben die Piraten sich nicht auf ein
kohärentes Programm einigen können. Abstimmungen über strittige Anträge
vertagen sie teilweise über Jahre. Das Programm zur Bundestagswahl zählt
bislang eine Handvoll Punkte: So gut wie alle künstlerischen Werke sollen
„frei zugänglich“ sein, dazu gibt es ein bedingungsloses Grundeinkommen f�…
alle. Ein landesweiter gesetzlicher Mindestlohn soll her, Sanktionen gegen
Hartz-IV-Empfänger gehören abgeschafft und die – irgendwie auch gute –
Leiharbeit eingegrenzt. Das war’s.
Wie aber steht die Partei zum Euro-Rettungskurs der Regierung? Euro-Bonds
oder mehr Macht für die EZB? Mit wem würde sie, falls überhaupt, koalieren?
Ja oder Nein zur Militärintervention in Syrien? Was hält sie von
Panzerexporten nach Indonesien? Der Schwarm hat seine Intelligenz noch
nicht bewiesen. Mittlerweile glauben die Piraten selbst nicht mehr, dass
sie auf ihrem Parteitag Ende November ein komplettes Wahlprogramm
aufstellen können. Der „Bundesparteitag 2013.1“ ist schon in Planung.
## Viel Lust am Kaputtmachen
Was die Piraten lange Zeit als sympathische Ergebnisoffenheit verkaufen
konnten, als inszenierungs- und phrasenfreie Politik, hat sich verbraucht.
Die Partei wirkt nicht mehr diskussionsfreudig, sondern wurstig. Viele
Mitgliedern zeigen ein Ausmaß an Destruktivität, das nicht einmal WASG oder
frühe Grüne aufbrachten. Hassausbrüche gibt es anonym und 24 Stunden am
Tag.
Zugleich zeigt sich eine erstaunliche Mischung aus Hysterie und
Desinteresse. Nur wenige der 34.000 Mitglieder engagieren sich an
Programmdebatten. Wer sich mit eigenen Positionen an die Öffentlichkeit
wagt, muss mit übelsten Beschimpfungen rechnen. Als Folge hat die Partei
die Führung, die sie verdient.
Parteichef Bernd Schlömer wiederholt das verbrauchte Credo, er könne sich
nicht zu Themen äußern, bei denen die Partei noch nicht festgelegt habe.
Seine Vorstandskollegen bekriegen sich, treten erschöpft und psychisch
verletzt zurück. Die da aufgeben, haben nicht mit inhaltlichen Ideen
geglänzt. Der verbliebene Politische Geschäftsführer freut sich über jede
Art der Aufmerksamkeit, und sei es ätzende Kritik. Die selbst erklärte
Partei der Kommunikationsfähigkeit hat keine Ahnung, wie sie intern oder
öffentlich kommunizieren soll. Das sind die Probleme. Was sind die
Lösungen?
Nach dem großen Piraten-Aufschwung ist es Zeit für einige unangenehme
Einsichten. Die erste lautet: Parteien entkommen dem Zwang zur Inszenierung
nicht, indem sie ihn leugnen.
Politik braucht Köpfe. Selbst jene, die den Piraten Sympathie entgegen
bringen, irritiert ihre Ungreifbarkeit. Wer debattiert bei denen, wer
stimmt ab, und wer vertritt die Kompromisse nach außen? Fast niemand wählt
allein aufgrund eines Programms. Mit Personen verknüpfen Bürger politische
Ansichten und Mentalitäten. Deshalb brauchen die Piraten Führungsleute, die
taktieren, emotionalisieren und zuspitzen können – auch wenn das der reinen
Lehre widerspricht.
## Der Konsens-Unfug
Daher lautet die zweite Einsicht: Die Piraten brauchen einen stabilen, gut
ausgerüsteten Parteiapparat. Sie müssen ihre Spitzenleute bezahlen, damit
sie sich auf ihr Tun konzentrieren können. Bislang versieht der Vorsitzende
seine Arbeit nach Feierabend, und die Partei hat keinen einzigen
angestellten Mitarbeiter. Die Mitgliedsbeiträge kommen nur spärlich, und
niemand wagt, sie offensiv einzufordern. Wenn es an ihr Geld geht, werden
natürlich manche Anhänger den Piraten den Rücken kehren, aber die
Alternative ist das Verdorren der Partei.
Unter den Abgeschreckten wären viele, die die Piraten lediglich als
neuestes Vehikel zur Verbreitung ihrer Weltsicht sehen, derzufolge alle
Menschen Idioten sind – außer ihnen selbst. Paradoxerweise ist in der
Partei die Sehnsucht nach Konfliktfreiheit groß. Es wird diskutiert und
vertagt, aber viel zu selten entschieden. Das führt zur dritten
schmerzhaften Einsicht: Demokratie bedeutet nicht, dass alle so lange
reden, bis niemand mehr „Nein!“ ruft. Wer auf einstimmigem Konsens besteht,
lähmt sich, seine Partei und erzielt letztlich nichts.
Von alledem Abschied zu nehmen, ist kompliziert genug. Die am schwersten in
Taten umzusetzende Einsicht ist jedoch diese: Die Piraten müssen den
anderen Parteien ähnlicher werden, ohne das spezifisch Piratige zu
verlieren. Das Vorbild könnten die Grünen abgeben. Ihr alternativer Gestus
aus Gründungszeiten wirkt bis heute nach. Ihre angebliche Andersartigkeit,
gepaart mit Vertrauen in ihre Kompetenz und ihren Pragmatismus trägt zu
ihrem steten Wahlerfolg bei.
Ähnliches können auch die Piraten erreichen: wenn sie Wissen und
Fähigkeiten ihrer Mitglieder klug kanalisieren. Wenn sie sich professionell
präsentieren, ohne austauschbar zu wirken. Wenn sie Themen besetzen, die
Wähler dauerhaft mit ihnen verbinden. Langweilig zu sein, kann ziemlich
interessant werden.
23 Nov 2012
## AUTOREN
Matthias Lohre
## TAGS
Piraten
Grüne
Piratenpartei
Piraten
Piraten
Piratenpartei
Schwerpunkt Landtagswahlen
Piratenpartei
Landtag
Marina Weisband
Piratenpartei
Anke Domscheit-Berg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Piraten gründen sozialliberalen Flügel: 30 zum Start, 300 sollen es werden
Die Piratenpartei hat einen neuen Flügel. Viele sozialliberalen Piraten
fühlten sich derzeit alleingelassen, heißt es in der Begründung.
Bundesparteitag der Piraten: Die etwas andere Grundsatzdebatte
Totalopposition oder sozialliberale Kraft? Auf ihrem Parteitag versuchen
sich die Piraten zwischen Eigenständigkeit und Professionalität zu
verorten.
Kommentar Parteitag der Piraten: Die Stärke ist die Schwäche
Eine Partei wie die anderen auch werden die Piraten vorerst nicht sein.
Denn ihr Programmparteitag zeigt, dass die Partei inhaltlich sehr schnell
an ihre Grenzen stößt.
Piraten-Parteitag in Bochum: Flickenteppich mit Lücken
Die Piraten verabschieden einen Grundsatzkatalog für ihre
Wirtschaftspolitik. Am Ende bastelt die Partei aus zwei Anträgen eine Art
Programm.
Parteitag der Piraten in Bochum: Die Trollangriffe abwehren
Vor dem Parteitag stellt sich der Vorstand der Piratenpartei der Basis zur
offenen Aussprache. Sie wollen Frust ablassen. Schließlich soll es später
um Inhalte gehen.
Piraten in Niedersachsen: Der Obertroll
Volker Schendel ist ein Querulant unter den niedersächsischen Piraten: Er
kämpft dagegen, dass die eigene Partei zur Landtagswahl zugelassen wird.
Piraten-Parteitag in Bochum: Träume von einer besseren Welt
Die Anträge für das Piraten-Parteiprogramm gleichen einer
Wünsch-dir-was-Liste. Ob das reicht, um die Leerstellen zu Wirtschaft und
Außenpolitik zu füllen?
Tweet zum Nahost-Konflikt: Piraten-Politiker entschuldigt sich
Dietmar Schulz bedauert einen Tweet, in dem er den Holocaust mit dem
Nahostkonflikt verglich. Für den Landtag in NRW und die Piratenpartei ist
das Thema damit durch.
Piratin Weisband contra „Spiegel“: Eins zu eins
Eine Journalistin des „Spiegels“ veröffentlicht einen Text über eine
ehemals führende Piratin. Die fühlt sich falsch zitiert. Recht haben beide.
Kommentar Piratenpartei: Verfrühte Grabreden
Die Piraten werden zu Unrecht unter die Fünfprozenthürde gequatscht. Man
braucht sie, weil sie fehlten – und ein neues Lebensgefühl verkörpern.
Umfragewerte der Piratenpartei: Schlingerkurs in Richtung Parteitag
Die Zustimmungswerte der Piraten sind weiter gering. Ein Parteitag im
November soll wieder Inhalte nach vorn spülen.
Parteitag der Piraten: Piraten wollen wieder durchblicken
Die Piratenpartei wählt ihren Landesvorstand neu. Unter den Kandidaten sind
auch einige alte Bekannte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.