| # taz.de -- Bundesparteitag der Piraten: Die etwas andere Grundsatzdebatte | |
| > Totalopposition oder sozialliberale Kraft? Auf ihrem Parteitag versuchen | |
| > sich die Piraten zwischen Eigenständigkeit und Professionalität zu | |
| > verorten. | |
| Bild: Ganz Old School: Mitglieder der Piratenpartei mit Stimmzetteln. | |
| BOCHUM taz | Ganz am Anfang sind sich die Piraten einmal einig. Als Bochums | |
| Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz an die 2.000 Frauen und Männer vor ihr | |
| begrüßt, nennt die SPD-Politikerin sie „liebe Delegierte“. Die Halle buht. | |
| Die Piraten sind stolz darauf, dass jedes zahlende Mitglied abstimmen darf, | |
| nicht nur Delegierte. Scholz kontert: „Ich habe gehört, Sie sind eine | |
| tolerante Partei.“ Jubel, Gelächter, alles wieder gut. Schließlich haben | |
| sich die Piraten vorgenommen, konstruktiv zu sein auf ihrem 11. | |
| Bundesparteitag. | |
| Es wird ein Treffen der Rekorde: Mehr Mitglieder denn je sind gekommen, um | |
| zehn Monate vor der Bundestagswahl das Grundsatz- und das Wahlprogramm mit | |
| Inhalten zu füllen. Sie wollen endlich nicht mehr nur wissen, was die | |
| Piraten nicht sind, sondern wofür sie stehen. Knapp 1.500 Druckseiten | |
| umfassen die rund 800 Anträge. Wenn sie 80 davon behandeln können, sagen | |
| die Organisatoren zu Beginn, können sie sehr zufrieden sein. Schon am | |
| Samstag wird klar: Es wird ihnen nicht gelingen. | |
| Vor allem junge Männer sitzen an den Tischen im fensterlosen Saal. Herren | |
| in XXL-T-Shirts mit Aufdrucken wie „AG Dicke Piraten“ oder „Eine Zensur | |
| findet nicht statt“. Dazu vielleicht 20 Prozent Frauen, viele im Emo-Look: | |
| grelles Make-up, Haare in Neonfarben. Drum herum viele Club-Mate-Flaschen, | |
| ein rosa Plüschpony und ein paar Mitglieder mit Seeräuberhüten und | |
| Augenklappen. Klischees müssen gepflegt werden. | |
| Doch überraschend zügig einigen sich die Piraten auf eine Tagesordnung. Sie | |
| soll sicherstellen, dass gezielt Anträge drankommen, die Programmlücken | |
| füllen. Es gibt genug: Wirtschaft, Europa, Außenpolitik. Als jemand per | |
| Geschäftsordnungsantrag versucht, doch noch seinen Lieblingsantrag auf die | |
| Tagesordnung zu bringen, verlangt ein Pirat ein Meinungsbild, ob man solche | |
| Anträge in Zukunft lassen soll. Fast nur gelbe Ja-Karten sind zu sehen. | |
| ## Anträge und langwierige Debatten | |
| Trotzdem ist das Saalmikro Sehnsuchtsobjekt für all jene, die | |
| Aufmerksamkeit suchen. Eine Verschwörungstheoretikerin schreit wegen der | |
| fehlenden Souveränität Deutschlands nach der „Kontrolle über das | |
| Weltsystem“. Manche Redner mahnen ausführlich, man möge keine Argumente | |
| wiederholen. Auch wenn genau das ihr Vorredner schon gesagt hat. Und erst | |
| nach längerer Debatte lehnen die Piraten einen Antrag ab, der für die | |
| „intensive Erforschung von Zeitreisen“ plädiert. | |
| Am größten ist der Jubel unter den Piraten, als vorne verkündet wird, dass | |
| das WLAN-Netz wieder steht. Über Stunden hatten Mitglieder und Journalisten | |
| nur unter Mühen verfolgen können, welche Anträge eigentlich zur Abstimmung | |
| stehen. Die Anträge lesen sie im Internet nach, nicht auf Papier. | |
| Noch etwas, das die Piraten von anderen Parteien unterscheidet: Jedes | |
| Mitglied kann Anträge entwickeln und einbringen. So wie Laura Dornheim, 28 | |
| Jahre, Wirtschaftsinformatikerin. Auf ihrem schwarzen T-Shirt steht der | |
| Grund, warum sie in den vergangenen Wochen nicht viel geschlafen hat: PA | |
| 091. Das ist die Antragsnummer zu einem Grundsatzprogramm | |
| Wirtschaftspolitik, das sie zusammen mit drei Mitstreitern entwickelt hat. | |
| Rund hundert Stunden Arbeit waren das, schätzt sie, spätabends im Mumble – | |
| jener Software, mit deren Hilfe Piraten Telefonkonferenzen abhalten. Zwei | |
| der Mitstreiter sehen sich in Bochum erstmals persönlich. | |
| Für Dornheim wird es ein spannender Samstag. Die Versammlung entscheidet, | |
| gleich zu Beginn über das Wirtschaftsprogramm zu diskutieren. Viel muss sie | |
| sich anhören: Der Antrag habe „zu viele Lücken“ und sei „inkonsistent�… | |
| Andere finden ihn „viel zu konkret“, wieder andere „ziemlich, ziemlich | |
| gut“. Einer fragt: „Was soll dieser neoliberale Müll?“ Letzteres hat sie | |
| besonders irritiert, denn über ihre Haltung sagt sie: „Ich würde mich ganz | |
| klar links positionieren, auch in der Wirtschaftspolitik.“ | |
| ## Grundsatzprogramm teilweise angenommen | |
| Als klar wird, dass Dornheims Antrag nicht komplett durchkommt, gibt es | |
| eine aufgeregte Diskussion vor dem Tisch der Antragskommission, hier heißt | |
| sie „Shitstorm-Kristallisationspunkt“. Die Abschnitte des Antrags werden | |
| einzeln abgestimmt. Nach mehr als vierstündiger Diskussion bekommen die | |
| meisten die nötige Zweidrittelmehrheit. | |
| Dornheim sieht jetzt müde aus. Sie ist zufrieden, endlich hat sie etwas, | |
| auf das sie verweisen kann, wenn sie nach der Piratenposition gefragt wird. | |
| Seit weniger als anderthalb Jahren ist sie Mitglied bei den Piraten. „Es | |
| wäre wohl nirgends woanders möglich gewesen, in dieser Zeit ein | |
| Grundsatzprogramm zu schreiben“, sagt sie. | |
| Solche Fortschritte freuen auch Parteichef Bernd Schlömer. Mit müden Augen, | |
| einem Schal um den Hals, läuft der Oberpirat durch die Messehalle. Schon | |
| vor Beginn des Parteitags, am Freitagabend, hat er sich gemeinsam mit dem | |
| politischen Geschäftsführer Johannes Ponader der Basis gestellt. In den | |
| Wochen zuvor mussten sie erklären, wie sie noch zusammenarbeiten wollen. | |
| ## „Stabil“ und „kollegial“ | |
| Zwei Vorstandsmitglieder hatten ihr Amt aufgegeben. Schlömer hatte geätzt, | |
| Ponader möge doch arbeiten gehen, anstatt Anhänger um Spenden zu bitten. | |
| Nun sitzen beide einträchtig nebeneinander auf dem Podium wie zwei | |
| Schuljungen, die nach einer Schulhofklopperei beim Rektor die Leviten | |
| gelesen bekommen. Sie sagen Sätze wie: „Ich halte das für ein stabiles, | |
| kollegiales Arbeitsverhältnis.“ | |
| Am Sonntagnachmittag lädt die Parteispitze zur Pressekonferenz. Im Saal | |
| „Berlin“ wertet sie es bereits als Erfolg, was zur selben Zeit eine Etage | |
| tiefer noch debattiert wird. Ein Journalist fragt: Wie könne die Partei | |
| einen umweltpolitischen Antrag fürs Grundsatzprogramm mit | |
| Zweidrittelmehrheit annehmen, wenn klar sei, dass kaum ein Pirat wisse, was | |
| er da beschließt? | |
| Für Geschäftsführer Ponader zeigt das nicht die Grenzen der | |
| Schwarmintelligenz, im Gegenteil. „Wer den Antrag nicht gelesen hat, hat | |
| immer einen neben sich, den er fragen kann“, sagt Ponader ins Mikro. „So | |
| funktioniert ein soziales Feld.“ | |
| 25 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| S. Erb | |
| M. Lohre | |
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