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# taz.de -- Siri Hustvedt über Sexismus: „Angst vor weiblicher Macht“
> Das reaktionäre Frauenbild der Republikaner fördert eine neue
> Emanzipationsbewegung in den USA. Das meint die Schriftstellerin Siri
> Hustvedt.
Bild: Frauen bei den Republikanern: Eine Randerscheinung, ganz rechts außen.
sonntaz: Frau Hustvedt, seit Langem schon kritisieren Sie die
frauenfeindliche Rhetorik vieler Politiker in den Vereinigten Staaten.
Teilen Sie das Gefühl, dass sich da in letzter Zeit etwas bewegt hat?
Siri Hustvedt: Ich war zumindest positiv davon überrascht, dass im Zuge der
Präsidentschaftswahlen auch Frauenthemen diskutiert wurden. Die
Republikaner waren dabei enorm hilfreich. Sie haben eine allgemeine
Empörung unter Frauen angestachelt. Der rechte Radiotalkshow-Moderator Rush
Limbaugh hatte schon im März damit angefangen, als er Sandra Fluke, eine
junge Jurastudentin, öffentlich angriff. Sie hatte sich dafür
ausgesprochen, dass Verhütungsmittel kostenlos sein sollten. Er nannte sie
daraufhin eine „Schlampe“ und eine „Prostituierte“. Weiße Männer übe…
haben Obama in diesem Jahr nicht gewählt. Schwarze, hispanisch- und
asiatischstämmige Amerikaner, junge Leute und Frauen haben das getan.
Fanden Sie Mitt Romneys Debattenbeitrag über seine „Ordner voller Frauen“
auch so komisch?
Die Komik dieser Bemerkung kam leider daher, dass sie herablassend und
entmenschlichend war. Wir streben nicht an, Nutznießer von Mitt Romneys
Großzügigkeit gegenüber unserem Geschlecht zu sein. Ich fand es
faszinierend, dass er tatsächlich hoffte, liberal gesinnt und sympathisch
zu klingen, während er nur seinen eigenen Sexismus zur Schau stellte.
Glauben Sie, dass es bezüglich solcher Art von Sexismus einen fundamentalen
Unterschied zwischen den USA und Europa gibt?
Ich denke, dass es davon abhängt, wo in Europa man sich befindet. In
Skandinavien zum Beispiel gibt es umfassende Gesetze, die Familien schützen
und sowohl für die Mutter als auch für den Vater Elternzeit einräumen. In
Italien und Frankreich hingegen habe ich persönlich oft die Erfahrung eines
um sich greifenden Sexismus gemacht – und Sexismus ist ja auch nicht auf
die Männer beschränkt, Frauen unterliegen seinen korrodierenden Kräften
genauso. Es ist interessant, dass Frauen bis ins Jahr 1944 in keinem der
beiden genannten Länder wählen durften. Das Stimmrecht scheint zumindest
teilweise den Fortschritt zu indizieren, den ein jeweiliges Land in der
Frauenfrage gemacht hat.
In den USA dürfen Frauen schon seit 1920 wählen. Das hat aber nicht
verhindert, dass die Innenpolitik der vergangenen Jahre von einem
fundamentalistisch gefärbten Kulturkrieg bestimmt wurde, der vor allem
Frauen und Schwule ins Visier zu nehmen schien?
Was den Kulturkrieg betrifft: Ich glaube, dass die Wahlen gezeigt haben,
dass es nicht mehr funktioniert, extreme politische Meinungen zu vertreten.
Die meisten Amerikaner unterstützen Verhütung, das Recht auf Abtreibung und
die Homoehe. Das reaktionäre, republikanische Grundsatzprogramm ist daher
das Grundsatzprogramm einer Minderheit. So scheint die Lage zumindest im
Moment auszusehen. Aber es ist schwer, da gänzlich optimistisch zu sein.
Denn der republikanische Diskurs ist nicht immer offen misogyn. Er lebt von
einer anhaltenden, unterschwelligen Angst vor weiblicher Macht.
Wie meinen Sie das?
Die Fantasie von Amerikas Rechten ist, dass Menschen sich aus eigener Kraft
erschaffen und niemandem etwas schulden. Das ist eine reine
Wunschprojektion. Jeder Mensch wird hilflos und abhängig in diese Welt
hineingeboren. Jedes kleine Kind ist an jemanden gebunden – üblicherweise
eine Frau, die eine überwältigende Macht innehat, weil sie sein Leben in
der Hand hält. Wir werden alle durch andere Menschen und unsere Umwelt zu
dem, was wir sind. Amerikas Rechte propagiert eine männliche Fantasie
totaler Unabhängigkeit. Das wird schon im oft von ihr verwendeten,
abwertenden Begriff vom „Nanny-Staat“ deutlich. Indem sie den Staat
feminisiert, spielt sie mit der männlichen Angst davor, entmaskulinisiert
und infantilisiert zu werden. Einer Angst, die oft nicht nur
unausgesprochen bleibt, sondern unbewusst stattfindet.
Mia, die Heldin Ihres letzten Romans „Der Sommer ohne Männer“, realisiert,
dass sie zu ihrer problematischen Ehe und ihrem Status als Bürger zweiter
Klasse selbst viel beigetragen hat. Ist ein Teil des Problems, dass Frauen
Männern zu viel durchgehen lassen?
Sie haben recht. Mia versteht, dass sie zu nachgiebig war in ihrer Ehe und
dass sie mehr auf ihrem Bedürfnis hätte bestehen müssen, ihre Arbeit als
Lyrikerin voranzutreiben. Ihre Wut ist teilweise auf sich selbst gerichtet.
Patriarchale Strukturen greifen tief, und sie greifen noch tiefer für
ältere Frauen, weil die Ideologie des weiblichen Selbstopfers für Ehemann
und Kinder in früheren Generationen von Frauen sehr viel potenter war als
heute.
Wie schätzen Sie die Situation in jüngeren Generationen ein?
Junge Frauen werden immer noch stark von einem Druck behindert, dem sich
junge Männer nicht aussetzen müssen – dazu gehören eine brutale,
kommerzielle Schönheitskultur, der Zwang, „nett“ zu sein und ihren Ehrgeiz
zu verstecken, sowie die Vorurteile einer traditionell männlich geprägten
Arbeitswelt. Es gibt eine Unzahl an Forschungen, die belegen, dass all das
tatsächlich wahr ist.
Anne-Marie Slaughter hat im Sommer mit ihrem Essay „Why women still can’t
have it all“ in der Zeitschrift Atlantic für Furore gesorgt. Mit über
750.000 Klicks war es der meistgelesene Artikel in der Geschichte des
Heftes. Sie klingen, als würden Sie Slaughters Ansicht mehr als teilen?
Slaughter schreibt, dass US-amerikanische Frauen heute nicht alles haben
können. Und sie hat recht. Familie und Kinder sind hier schwerer als
anderswo unter einen Hut zu bringen. Wir haben kein universelles
Kindergartenprogramm und keine Elternzeit. Ich glaube allerdings, dass dem
Ausdruck „alles zu haben“ etwas Perverses anhaftet. Wir alle, ob Mann oder
Frau, treffen Entscheidungen über unser Arbeits- und Familienleben. Im
Leben geht es nicht darum, „alles zu haben“. Es geht darum, so gut zu
leben, wie man das unter den jeweiligen Bedingungen kann. Auch als meine
Tochter klein war, habe ich geschrieben, aber sie kam ohne Frage an erster
Stelle. Sie brauchte mich. Andererseits entstellen sich Menschen, wenn sie
zu viel für andere Menschen aufgeben. Man muss diesbezüglich eine Balance
finden – und dafür ist ein soziales und gesetzliches Umfeld notwendig, das
Familien unterstützt.
Auch Naomi Wolfs Bestseller-Geschichte der „Vagina“ wurde in den letzten
Wochen heftig diskutiert. Erleben wir in den USA gerade die Geburtsstunde
eines neuen Feminismus?
Ich habe Wolfs neues Buch leider noch nicht gelesen, deswegen kann ich
nichts dazu sagen. Ich glaube aber, dass die Polaritäten, die in den
letzten Wahlen so offensichtlich wurden, dabei geholfen haben, einen Fokus
für die heutigen Belange von Frauen zu schaffen. Es sieht im Moment so aus,
als ob die Idee, der Feminismus sei die Bewegung einer lange
zurückliegenden Ära oder eine Ideologie, die ausschließlich aus den Köpfen
älterer Ladys wie mir stammt, gerade als ein Mythos, als eine große Lüge
entlarvt wird. Junge Frauen scheinen wieder verstärkt ihr feministisches
Selbst zu entdecken.
In Ihrem neuen Essayband „Living, Thinking, Looking“ sagen Sie, dass das
Lesen und das Schreiben exakt die beiden Orte sind, in dem Sie sich von den
Zwängen Ihres Geschlechts befreit fühlen. Warum?
Wenn ich schreibe, bin ich frei, innerlich frei. Ich kann männliche und
weibliche Stimmen annehmen, wie ich möchte. Da draußen, in der Welt,
bestehen die Vorurteile gegen Schriftstellerinnen allerdings weiterhin.
Niemand etwa spricht von „Männerliteratur“. Der Roman selbst ist heute
gewissermaßen eine feminine Kunstform geworden. In der ganzen Welt wird er
vor allem von Frauen gelesen – und alles, was vorwiegend mit Frauen
assoziiert wird, sei es ein Buch, ein Job oder eine Krankheit, verliert
automatisch an Status. Überall kommen Männer nach Lesungen auf mich zu und
sagen: „Ich lese keine Romane, aber meine Frau tut es. Könnten Sie das Buch
für sie signieren?“ Solche Männer meinen nicht, dass sie generell nichts
Fiktionales lesen, dass sie mit Homer, Dante, Shakespeare, Cervantes oder
Goethe nichts anfangen können. Sie meinen, dass es ihnen irgendwie
entmaskulinisierend vorkommen würde, wenn sie imaginäre Geschichten aus dem
Kopf einer Frau läsen. Einem Roman hilft es immer, wenn er von einem Mann
geschrieben worden ist.
30 Nov 2012
## AUTOREN
Daniel Schreiber
Daniel Schreiber
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