Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rape Culture: Die hässliche Wirklichkeit
> In Deutschland werden – im Gegensatz zu Indien – Vergewaltigungen rigoros
> geahndet. Oder? Nicht ganz. Opfern wird generell misstraut.
Bild: Ein Drittel aller Frauen wurde schon mal geschlagen oder vergewaltigt.
Man stelle sich vor, in einer Wohnung fängt der Weihnachtsbaum Feuer, bald
steht das ganze Wohnzimmer in Flammen. Jemand ruft die Feuerwehr. Aber
statt loszufahren, fragt diese erst mal nach: Sind Sie ganz sicher, dass es
brennt? Gibt es Zeugen? Haben Sie sich fahrlässig verhalten oder das Feuer
womöglich absichtlich gelegt? Ach, Sie haben schon Brandwunden? Die können
Sie ja auch vom Plätzchenbacken haben. Kann es sein, dass Sie sich einfach
wichtig machen wollen? Und finden Sie es nicht vielleicht auch ein bisschen
geil, die Flammen zu sehen und die Hitze zu fühlen?
Was bei einem Wohnungsbrand absurd wirkt, ist – übertragen auf
Vergewaltigungen – leider oft die hässliche Wirklichkeit. Jemand zeigt eine
Tat bei der Polizei an oder macht sie auf andere Art öffentlich und erhält
statt kompetenter Fürsorge und Hilfe: Misstrauen und Vorwürfe. Frauen, die
Anzeige erstatten, werden dann gefragt, warum sie denn zu so später Stunde
allein unterwegs waren. Angestellten, die sich gegen Vorgesetzte wehren,
wird strategisches Interesse unterstellt. Kindern wird gesagt, dass sie
eine Situation wohl falsch verstanden hätten. Und so weiter.
Die Studentin Hannah M. hat das erlebt. Eines Abends kam sie spät nach
Hause, lief über den Innenhof zu ihrer Wohnung in Berlin-Neukölln und wurde
von einem Unbekannten angegriffen. „Er drückte mir von hinten seinen Arm um
den Hals, warf mich zu Boden. Ich hatte Todesangst“, erzählt sie.
Sie schrie und schlug um sich, kniff dem Täter zwischen die Beine. „Er floh
und ich stolperte kreidebleich in meine WG.“ Eine Mitbewohnerin rief die
Polizei, kurz darauf standen ein Beamter und eine Beamtin in der Wohnung.
M. erzählte, was vorgefallen war, die Beamtin sagte: „Es ist aber auch ein
komisches Hobby, nachts im Minirock durch Neukölln zu laufen, oder?“
## Opfern wird generell misstraut
Im Englischen gibt es dafür einen eigenen Begriff: „Rape Culture“. Gemeint
ist eine Gesellschaft, in der sexuelle Gewalt zwar weit verbreitet ist,
aber von vielen Menschen nicht als solche gesehen wird: Opfern wird
generell misstraut oder die Schuld zugeschoben, indem Täter geschützt und
Vorfälle heruntergespielt werden. Wer „Vergewaltigungsmythen“ googelt,
findet viele dieser tief verwurzelten Denkweisen. Es ist, als würde man
demjenigen, der bei der Feuerwehr anruft, weil seine Wohnung brennt, sagen:
Es ist aber auch ein komisches Hobby, brennende Kerzen auf Bäume zu
stecken.
Die Debatte über Missbrauch und Vergewaltigung ist neu entfacht, seit in
Indien die Vergewaltigung einer 23-jährigen Frau massenhafte Proteste
auslöste. Menschen gehen dort zu Tausenden auf die Straße, Silvesterfeiern
wurden abgesagt. Und hier? Man diskutiert über die indische Justiz, das
Kastensystem, die Straßenbeleuchtung in Neu-Delhi. Kaum eine Demo oder
Podiumsdiskussion, die sich mit den Menschen in Indien solidarisiert oder
fragt, ob es um uns denn besser bestellt ist.
Wie schlecht es um die Opfer sexualisierter Gewalt auch in Deutschland
steht, zeigte im vergangenen Sommer die Aktion
„[1][#ichhabnichtangezeigt]“. Betroffene waren aufgerufen, zu erzählen,
warum sie eine Tat nicht angezeigt hatten. Innerhalb von sechs Wochen
teilten 1.105 Menschen auf der Webseite ihre Erfahrungen. „Ich habe nicht
angezeigt, weil er mein bester Freund war“, schrieb jemand. Oder: „Ich habe
nicht angezeigt, weil ich zu jung war und gar nicht wusste, dass es
überhaupt eine Vergewaltigung ist.“ Oder: „Weil es an Beweisen fehlte.“
## Nichtanzeige wegen sozialer Gefüge
In der Auswertung des Projekts schrieben die Initiatorinnen, dass die
Täter, sofern sie genannt wurden, zu 93 Prozent aus dem sozialen Umfeld der
Opfer kamen. Gründe für die Nichtanzeige seien demnach oft „Verantwortung
für den Schutz und den Fortbestand von Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz
und anderer wichtiger sozialer Gefüge“. Ein schreckliches Fazit. Als wenn
soziale Gefüge nicht gerade Menschen schützen sollten.
So, wie Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs momentan in Deutschland
laufen, ist es logisch, dass viele Missbrauchsopfer keine Anzeige
erstatten. Sie schützen damit zwar die Täter, aber auch sich selbst vor
einem womöglich erniedrigenden, scheußlichen Prozess – in dem die Täter oft
mit leichten Strafen oder ungestraft davonkommen.
## Definitionsmacht Kachelmann?
Einer, der die Rede von Rape Culture für absurd hält, ist der
Wettermoderator Jörg Kachelmann. Seit er im Mai 2011 vom Vorwurf der
Vergewaltigung freigesprochen wurde, verbreitet er seine Thesen über
Falschbeschuldigung als „Massenkriminalität“. Wo andere „rape culture“
sagen, sagt Kachelmann „falschbeschuldigungsculture“.
Zwar ist ein Mann, der sich die Definitionsmacht für unzählige Fälle
sexualisierter Gewalt zuspricht, eigentlich nichts Besonderes. Wenn er so
viele Anhänger hat wie Kachelmann, leider schon. [2][Eine seiner Aussagen
auf Twitter:] „Terre des Femmes ist profitorientierter Teil der
Opferindustrie und nicht weiter ernstzunehmen.“ Kachelmann hat etliche
Fans. Einige von ihnen haben es sich zur Aufgabe gemacht, in Blogs und auf
Twitter Vergewaltigungsmythen zu verbreiten und AutorInnen, die über
sexualisierte Gewalt schreiben, übel zu beschimpfen.
Dass Kachelmann durch seinen Prozess so heftig traumatisiert ist, dass er
sich paranoid in einem „TäterInnenstaat“ sieht und von „Opferindustrie“
spricht, mag sein. Dass es aber Frauen gibt, die ein ganzes Blog zu dem
Thema vollschreiben, schockiert.
## Triggerwarnung vor die Gesellschaft
Vergewaltigungsopfern, die so etwas lesen, ist ein dickes Fell zu wünschen.
Im Internet steht vor Texten oder Bildern, die sexualisierte Gewalt
darstellen, manchmal eine „Triggerwarnung“. Bilder von Missbrauch zu sehen,
kann schwere Retraumatisierungen verursachen. Aber wer setzt eine
Triggerwarnung vor die Gesellschaft?
Warum tun sich nicht nur die Inder, sondern auch die Deutschen so schwer
damit, anzuerkennen, wie viel sexualisierte Gewalt es gibt und wie
entwürdigend immer wieder mit den Opfern umgegangen wird? Und das bei uns,
die wir angeblich so locker mit Sex umgehen.
Zwar werden Menschen jedes Geschlechts vergewaltigt – Männer, Frauen,
Intersexuelle – aber eben besonders oft Frauen und Mädchen. In einer
Gesellschaft, in der die männliche Macht immer noch dominiert, ist es dann
auch nur logisch, wenn Gewalt an Frauen tabuisiert wird.
## Gefahr für männliche Machtstrukturen
Weibliche Erfahrungen öffentlich zu machen, seien sie positiv oder negativ,
ist immer eine Gefahr für männliche Machtstrukturen. „Wenn heute über
Frauen und ihre Sexualität berichtet wird, so wird sie meist mit einer Art
Hurerei in Verbindung gebracht“, schreibt die britische Autorin Laurie
Penny in ihrem Buch „Fleischmarkt“. Frauen, die über ihren eigenen Körper
und ihren Sex sprechen, gelten schnell als zotig und pervers. Frauen, die
über eine erlebte Vergewaltigung sprechen, sind nach diesem Denken nicht
nur pervers, sondern auch noch aufmerksamkeitssüchtig und ganz bestimmt
psychisch verstört.
Vielleicht ist Rape Culture irgendwie auch der Reflex einer Gesellschaft,
Sexuelles wieder ins Private zurückdrängen zu wollen, in einer Welt, in der
Sexdarstellungen und nackte Körper so allgegenwärtig geworden sind.
Vielleicht ist es die Angst davor, von zu viel Gewalt zu erfahren, zu
hässliche Dinge zu sehen oder zu hören. Oder gar die Angst, selbst Erlebtes
wiederaufkommen zu lassen.
Für den 14. Februar, Valentinstag, plant die Bewegung „[3][One Billion
Rising]“ weltweite Proteste, initiiert durch die feministische Künstlerin
Eve Ensler, die unter anderem das Bühnenstück „Die Vagina-Monologe“
schrieb. Ein Drittel aller Frauen und Mädchen, sagt Ensler, also rund eine
Milliarde Menschen, wurde in ihrem Leben schon geschlagen oder
vergewaltigt. Diese Frauen, und andere Menschen, sollen an diesem Tag auf
die Straße gehen und ihre Macht deutlich machen – indem sie öffentlich
gemeinsam tanzen.
12 Jan 2013
## LINKS
[1] http://ichhabnichtangezeigt.wordpress.com/
[2] http://twitter.com/J_Kachelmann
[3] http://onebillionrising.org/
## AUTOREN
Margarete Stokowski
## TAGS
Rape Culture
Vergewaltigung
Täter
Opfer
Sexualisierte Gewalt
Missbrauch
Deutschland
Indien
Gewalt gegen Frauen
Rape Culture
Rape Culture
Rape Culture
Schule
Luft und Liebe
#Aufschrei
Sexuelle Gewalt
Sexismus
Vergewaltigung
Indien
Indien
Schwerpunkt Afghanistan
Massenvergewaltigung
Indien
Indien
Indien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Präventionstipps für Männer: Vergewaltige niemanden!
Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker legt Frauen Verhaltensregeln
nahe, um nicht vergewaltigt zu werden. Hier die Männerversion.
Schuldzuweisungen bei Übergriffen: #EineArmlänge zu unnütz
Kölns OB Henriette Reker rät Frauen, Abstand zu halten. Das verschiebt die
Schuldfrage. Im Netz erntet sie dafür viel Häme.
Rape Culture und Trolle auf Twitter: Was zu beweisen war
Menschen, die eine Vergewaltigung erlebt haben, twittern über ihre
Sprachlosigkeit – und ernten Spott und Drohungen. Ganz toll, Internet.
Umgang mit Vergewaltigungsvorwürfen: Das Ende des Aussitzens
Wenn Frauen Männern Vergewaltigung vorwerfen, verklagen diese sie wegen
Rufmord. Jüngstes Beispiel: Bill Cosby. Doch es geht auch anders.
Hotpantsverbot an Schulen: Aufreizend? Am Arsch!
Wer Mädchen vorschreibt, wie viel sie bei heißem Wetter anziehen sollen,
meint es nur gut. Wie so oft. Ein Lehrstück in Rape Culture.
Kolumne Luft und Liebe: Ein Paragraf, der wehtut
Nein heißt Nein, aber ein Nein reicht in Deutschland nicht aus. Die meisten
Vergewaltigungen bleiben straffrei.
Debatte Sexismus: Ein #Aufschrei der Vielen
Eine Frau, die glaubt, ein unglücklicher Einzelfall zu sein, wird keine
Revolte starten. Vor einem Jahr hat #aufschrei gezeigt, wie Kollektive
entstehen können.
Aktionstag gegen sexuelle Gewalt: „Genug ist genug“
Tänze vor Indiens Parlament und im Düsseldorfer Landtag: Weltweit gingen
Menschen am Donnerstag gegen die Unterdrückung von Frauen auf die Straße.
Kolumne Luft und Liebe: Die heilige Alice und der Saruman
Eines Tages werden mich meine Enkel fragen, wie es denn früher so war, als
es noch Sexismus gab. Und wo ich beim #Aufschrei war.
Abgewiesenes Vergewaltigungsopfer: Empörung über katholische Kliniken
Zwei katholische Krankenhäuser haben eine mutmaßlich vergewaltigte Frau
abgewiesen. Politiker drohen nun mit dem Entzug der gynäkologischen
Notfallbetreuung.
Kommentar Sexuelle Gewalt in Indien: Belagert von Männern
Der Mangel an staatlichen Grundleistungen sorgt dafür, dass Indiens Frauen
sexueller Gewalt ausgeliefert bleiben. Die liberale Elite verkennt das.
Sexualverbrechen in Indien: Todesurteil durch Schnellgericht
Ein indisches Schnellgericht verhängt das erste Todesurteil gegen einen
Sexualverbrecher. Derweil wird ein weiterer Fall einer brutalen
Vergewaltigung bekannt.
Proteste in Afghanistan: Unterschriften gegen sexuelle Gewalt
Mehrfachvergewaltigungen sorgen auch in Afghanistan für Proteste. Eine
Unterschriftenkampagne gegen sexuelle Gewalt sammelte bisher 3.000
Unterschriften.
Massenvergewaltigung in Indien: Kronzeugenangebote und neue Taten
Anwälte streiten darüber, ob man die mutmaßlichen Mörder der vergewaltigten
Inderin verteidigen darf. Die Gewalt gegen Frauen im Land geht weiter.
Kommentar Vergewaltigungen in Indien: Die Mittelschicht ist nicht besser
Nirgendwo ist die Gewalt gegen Frauen in Indien größer als innerhalb und
gegenüber den sozialen Unterschichten. Doch sie ist auch in den
Mittelschichten verbreitet.
Nach Massenvergewaltigung in Indien: Nackt und blutend auf der Straße
Der Freund des verstorbenen Opfers erhebt Vorwürfe gegen die Polizei. Diese
hätte die Verletzten erst nach zwei Stunden in die Klinik gebracht.
Vergewaltigung in Indien: Kotzen vor Wut
Viele InderInnen empören sich über eine Vergewaltigung in ihrem Land, die
zum Tod des Opfers führte. Wir reden drüber. Aber wann empören wir uns mit?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.