# taz.de -- Debatte Sexismus: Ein #Aufschrei der Vielen | |
> Eine Frau, die glaubt, ein unglücklicher Einzelfall zu sein, wird keine | |
> Revolte starten. Vor einem Jahr hat #aufschrei gezeigt, wie Kollektive | |
> entstehen können. | |
Bild: Der Aufschrei war laut - und dringend nötig. | |
Ein Jahr ist es her, da wurde plötzlich auf allen Kanälen über Sexismus – | |
und damit über Macht, Gewalt und Geschlecht – diskutiert. Verschiedene | |
Ereignisse waren zusammengekommen: Da war das [1][Porträt über Rainer | |
Brüderle], das Laura Himmelreich im Stern schrieb („Sie können ein Dirndl | |
auch ausfüllen.“). Da war der Spiegel-Artikel von Annett Meiritz über | |
[2][Frauenfeindlichkeit in der Piratenpartei]. Da war die [3][tödliche | |
Gruppenvergewaltigung einer Inderin] im Dezember 2012. Da war ein | |
[4][Beitrag im Blog kleinerdrei], in dem Maike Hank beschrieb, wie sehr | |
Frauen heute an sexuelle Übergriffe gewöhnt sind und sie oft hinnehmen in | |
einer Mischung aus Angst und unterdrückter Wut. | |
Und dann war da die Nacht vom 24. zum 25. Januar 2013, als Nicole von Horst | |
unter ihrem Twitternamen @vonhorst Erfahrungen beschrieb, die von | |
Alltagssexismus, Übergriffigkeit, Macht- und Sprachlosigkeit handelten. | |
Erfahrungen wie diese: [5][„Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich | |
wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag.“] Anne Wizorek, | |
@marthadear, antwortete: „Wir sollten diese Erfahrungen unter einem Hashtag | |
sammeln. Ich schlage #aufschrei vor.“ | |
Hashtags werden in sozialen Netzwerken Schlagworte genannt, die mit einer | |
Raute (engl.: hash) versehen werden und mit denen sich Nachrichten einem | |
Thema zuordnen lassen. #aufschrei war ein Fanal. Über Nacht wurde es zu | |
einem der meistgenutzten Hashtags in Deutschland. Innerhalb von zwei Wochen | |
wurden rund 58.000 Tweets dazu geschrieben, rund 26.000 Menschen | |
beteiligten sich. | |
Tausende Frauen berichteten von Erlebnissen mit alltäglichem Sexismus: „Der | |
Typ, der nachts einfach neben mir stand und wissen wollte, ob ich einen | |
Freund habe.“ – „Der Kollege, der mich gefragt hat, ob ich unten rasiert | |
sei.“ – „Die unzähligen Male, die ich als humorlos bezeichnet wurde, weil | |
ich einen ,leichten Klaps‘ auf den Arsch nicht witzig fand“. ‒ „Der Typ, | |
der mich als F*tze beschimpfte, als ich lieber ein Buch lesen wollte als | |
mit ihm zu reden.“ ‒ „Der Typ, der sich in einer komplett leeren | |
Straßenbahn direkt neben mich setzte.“ | |
## Ein ganz neuer Aneignungsprozess | |
Die meisten Hashtags bleiben da, wo sie herkommen: im Internet. #aufschrei | |
dagegen hat die Grenze zwischen Online und Offline überschritten. | |
Printmedien und Radios berichteten, Talksendungen luden ein, Menschen | |
diskutierten: Wo fängt Belästigung an? Wie geht man mit übergriffigen | |
Vorgesetzten und Kollegen um? Warum ist es so schwer, sich zu wehren? | |
Damit zeigte sich aber auch: Die Grenze zwischen Online und Offline ist | |
keine Grenze zwischen „dem Internet“ und dem „richtigen Leben“. Es waren | |
erlebte Geschichten, in denen meistens Frauen die Opfer waren. Ihre | |
Geschichten auf Twitter zu erzählen, war für viele ein ganz neuer | |
Aneignungs- und Einordnungsprozess. Eine Frau schrieb: „Meine erste | |
Reaktion zu #aufschrei: Krass, was anderen so passiert ist.“ Und dann: | |
„Meine zweite Reaktion zu #aufschrei: Was mir doch alles wieder einfällt, | |
wenn ich es mal nicht selbst verdränge und kleinrede.“ | |
Laura Himmelreich, die Autorin des Brüderle-Porträts, sagt [6][heute, ein | |
Jahr nach dem Aufschrei], die Sexismus-Debatte habe vor allem die Fragen | |
gestellt: „Warum gibt es Sexismus? Und warum nehmen wir ihn so | |
unterschiedlich wahr?“ Vielleicht ging es aber auch um eine noch | |
grundlegendere Frage: Wie verbreitet ist Sexismus überhaupt in unserer | |
Gesellschaft? Die Diskussion konnte schließlich nur so laut werden, weil es | |
schon lange ein Problem mit alltäglichem Sexismus gab, der viel zu selten | |
als solcher benannt wurde. | |
Nicole von Horst sagte später über ihre #aufschrei-Tweets, es sei ihr darum | |
gegangen, „Worte für Geschehnisse zu finden, die ich für unerklärbar, nicht | |
aussprechbar hielt“. Tatsächlich können bestimmte Begriffe da, wo | |
Erfahrungen unaussprechbar scheinen und zu Selbstzweifeln, Scham, Ängsten | |
und Einsamkeit führen, wie ein Werkzeug sein, das man braucht, von dem man | |
aber nicht mal weiß, dass es existiert. Als es den Begriff der „sexuellen | |
Belästigung“ noch nicht gab, oder den der „Vergewaltigung in der Ehe“, | |
fanden viele Betroffene schlicht keine Worte für das, was ihnen passiert | |
war. | |
Und nun gab es #aufschrei – ein Synonym für Protest gegen Sexismus im | |
Alltag. | |
## Versuch der Entmündigung | |
Wer unangenehme Erfahrungen als solche beschreibt, legt immer auch eigene | |
Wunden offen: Eine Geschichte dem #aufschrei zuzuordnen, hieß zuzugeben, | |
dass man eine Situation nicht einfach ignorieren oder vergessen konnte. | |
Aber gleichzeitig hieß es festzustellen, dass man nicht allein ist. | |
Simone de Beauvoir schrieb in „Das andere Geschlecht“: „Am Rande der Welt | |
situiert zu sein, ist keine günstige Ausgangslage für einen, der vorhat, | |
die Welt neu zu erschaffen.“ Eine Frau, die glaubt, ein unglücklicher | |
Einzelfall zu sein, wird keine Revolte starten – gerade in einer | |
Gesellschaft, in der Frauen eher lernen zu lächeln als zu kämpfen. Eine | |
Frau dagegen, die sich als Teil eines Kollektivs fühlt, ist stärker. | |
Als im Juni ein [7][Grimme Online Award] verliehen wurde an „alle, die sich | |
konstruktiv an #aufschrei beteiligt haben“, war die Begründung der Jury, | |
erst durch Twitter habe die gesellschaftliche Debatte über Sexismus an | |
Dynamik gewonnen. Dieses „Twitter“ sind einzelne Menschen. Sie haben die | |
Wirkungsmacht eines Kollektivs bewiesen, das sich zuvor nie als solches | |
konstituiert hatte. | |
Natürlich gab es unter denen, die das Hashtag #aufschrei benutzten, auch | |
viele, die es ironisch verwendeten und für sexistische Witze nutzten. | |
Unzählige Male wurde twitternden Frauen vorgeworfen, sie würden | |
übertreiben, sich wichtig machen oder sich ihre Erlebnisse ausdenken. Eine | |
Frau schrieb: „Frühmorgens, Großstadt, an der Ampel, auf einmal eine | |
wildfremde Hand an meiner Anzughose. ,Süßer Hintern‘.“ Jemand antwortete: | |
„Träume sind doch was Schönes.“ | |
Solche Beispiele zeigen, wie Sexismus funktioniert: als Versuch der | |
Entmündigung und Herabsetzung. Wer eine übergriffige Erfahrung als „Traum“ | |
umdeutet, sagt damit: Netter Versuch, aber die Definitionsmacht habe ich. | |
## Niemals ein individuelles Problem | |
Wer nicht glaubt, dass zur Teilnahme am #aufschrei eine Menge Mut gehörte, | |
kann sich eines Besseren belehren lassen: Die Erlebnisse und die Reaktionen | |
darauf sind auf Twitter schriftlich dokumentiert. Sofern nicht allzu viele | |
Menschen ihre Beiträge löschen, kann jede und jeder [8][nachlesen], was | |
Sexismus ist und mit welchen Mitteln hier gekämpft wird. | |
Die beschrieben Erfahrungen folgen immer wieder ähnlichen Mustern: Immer | |
wieder Hände, die wie durch Zufall auf Körperteilen landen, wo sie nichts | |
zu suchen haben. Immer wieder Bemerkungen, die auf den Körper der | |
Betroffenen abzielen. Immer wieder unangemessene Fragen zu sexuellen | |
Erfahrungen und Vorlieben. | |
Das zeigt: Sexismus ist niemals ein individuelles Problem. Wer sexistische | |
Übergriffe mit einzelnen Fakten aus dem Leben der Betroffenen erklären | |
will, hat den #aufschrei nicht verstanden. Wenn eine Frau erzählt, dass sie | |
belästigt wurde, hilft es nicht, zu fragen: Was hattest du an? Wie hast du | |
dich gewehrt? Warst du betrunken? Keine der Antworten auf diese Fragen | |
erklärt, warum Übergriffe geschehen. Wer die Gründe beim Opfer sucht, | |
betreibt „victim blaming“: Er beschuldigt die Betroffene, ihr Unglück | |
selbst herbeigeführt zu haben. | |
Sexistische Übergriffe geschehen nicht, weil jemand zu schüchtern ist oder | |
sich nicht wehrt. Sondern weil jemand anderes die Macht hat, Grenzen zu | |
überschreiten. | |
Zu sagen, dass es beim #aufschrei nicht um Einzelfälle ging, sondern darum, | |
Machtgefüge zu zeigen, bedeutet allerdings nicht, die Akteure von ihrer | |
individuellen Verantwortung zu entbinden. Zu verstehen, wozu der #aufschrei | |
gut war, bedeutet zu verstehen, dass diejenigen, die sexistische Witze | |
machen, übergriffig „flirten“ und Frauen einfach nicht in Ruhe lassen | |
können, nicht bloß einen schlechten Humor haben, sich gerne unterhalten | |
oder eben etwas dynamischer gestrickt sind, sondern dass sie | |
Machtstrukturen ausnutzen. Der Hinweis, die Angegriffene hätte sich wehren | |
können, schlägt fehl. Eine Gesellschaft, in der eine Frau ständig zum | |
Rückschlag bereit sein muss, ist eine Arschlochgesellschaft. | |
Auch die Seite [9][alltagssexismus.de] dokumentiert Fälle von | |
Alltagssexismus. Anders als auf Twitter können die Beiträge hier auch | |
länger als 140 Zeichen sein und anonym eingereicht werden. Ähnliche | |
Projekte sind [10][everydaysexism.com] und [11][ihollaback.org]. | |
19 Jan 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.stern.de/politik/deutschland/stern-portraet-ueber-rainer-brueder… | |
[2] http://www.spiegel.de/spiegel/annett-meiritz-ueber-die-frauenfeindlichkeit-… | |
[3] /Ein-Jahr-nach-Vergewaltigung-in-Indien/!129483/ | |
[4] http://kleinerdrei.org/2013/01/normal-ist-das-nicht/ | |
[5] https://twitter.com/vonhorst/status/294582499244376065 | |
[6] http://www.stern.de/politik/deutschland/bruederle-und-die-sexismus-debatte-… | |
[7] /Grimme-Online-Award-fuer-Aufschrei/!118583/ | |
[8] http://aufschrei.konvergenzfehler.de/ | |
[9] http://alltagssexismus.de/ | |
[10] http://everydaysexism.com/ | |
[11] http://www.ihollaback.org/ | |
## AUTOREN | |
Margarete Stokowski | |
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