# taz.de -- Laura Himmelreich übernimmt „Vice“: Die Frau der Projektionen | |
> Laura Himmelreich schrieb im „Stern“ über eine sexistische Bemerkung | |
> Brüderles. Nun übernimmt sie die „Vice“-Onlineredaktion. | |
Bild: Laura Himmelreich in der Berliner „Vice“-Redaktion | |
Laura Himmelreich hat kein einziges Kostüm im Schrank. Auch kein Sakko. Und | |
da sieht man mal, wie falsch man sie eingeschätzt hatte. In der Erinnerung | |
war sie auf Fotos, die in der Zeit der Debatte über Brüderles Sexismus von | |
ihr geschossen wurden, auf irgendeinem Politempfang, immer im Sakko | |
gewesen. Sie erinnern sich: Rainer Brüderle und sein Faible für Brüste und | |
Dirndl in einem vollkommen ungeeigneten Kontext. Was folgte, waren | |
Projektionen. | |
Wir sitzen in einem Raum mit dunklen Wänden, dicke helle Sitzpolster. Sieht | |
aus wie eine Eventlocation, ist aber der Raum, in dem die Vice ihre | |
Redaktionskonferenzen abhält. Wir sitzen hier, weil die 32-jährige | |
Himmelreich ein wenig berühmt ist: Markus Lanz hat über sie getalkt, die | |
Bild hat über ihre roten Stiefel berichtet. Und wir sitzen hier, weil das | |
Medienunternehmen Vice unheimlich schnell wächst und immer mehr merken, | |
dass man die ernst nehmen muss. Laura Himmelreich ist seit dem 1. Juni | |
Chefredakteurin von Vice.com. | |
Himmelreich ist aber nicht nur die Stichwortgeberin der #aufschrei-Debatte | |
– schon wieder eine Fehleinschätzung –, sie ist auch „die Erste, die | |
ausführlich darüber berichtet hat, dass alte Menschen zur Pflege nach | |
Osteuropa abgeschoben werden“. Sie hat Politikwissenschaft, Wirtschafts- | |
und Sozialgeschichte studiert, hat auf der Henri-Nannen-Schule gelernt, war | |
für den Reporterpreis nominiert und hat im Berliner Büro des Sterns | |
gearbeitet. Also nicht das erste Profil, an das man bei Vice denkt. Und wie | |
will sie hier jetzt den Journalismus retten? Sie lacht. „Bei Vice gibt es | |
nichts zu retten, der Laden läuft. Er ist bereits so aufgestellt, wie ein | |
Medienkonzern im Jahr 2016 sein muss.“ | |
Man müsste höchstens ein paar Dinge optimieren. Zum Beispiel? „Vice.com | |
wird drei zusätzliche Leute einstellen, dann sind wir zu zwölft. Das | |
bedeutet mehr Möglichkeiten, in die Recherche zu gehen, und mehr Zeit, an | |
Texten zu arbeiten. Ich bringe natürlich nach fünf Jahren | |
Politikjournalismus meine Themen mit und freue mich, dass wir diese hier so | |
umsetzen können, dass sie junge Leute erreichen.“ Wichtig für Geschichten | |
seien ein origineller Ansatz, Haltung und eine eigene Sprache. „Sie müssen | |
dicht am Protagonisten und emotional erzählt werden. Ich werde den | |
Journalismus nicht neu erfinden, und das ist auch nicht notwendig.“ | |
Zwei von den drei Kollegen sind bereits gefunden. Senior Editor wird die | |
ehemalige Kolumnistin von Spiegel Online, Wlada Kolosowa. Himmelreich hat | |
sich bei Tom Littlewood, dem Chef von Vice gemeldet, nachdem sie gehört | |
hat, dass er einstellt. Für sie überraschend wurde ihr dann die | |
Chefredaktion angeboten. Und sie hatte „extrem Bock. Da musste ich keine | |
Nacht drüber schlafen.“ | |
Laura Himmelreich trägt geschlossene, damenhafte Schuhe zum Kleid. Das | |
steht jetzt hier nicht, weil sie eine Frau ist, sondern weil die meist | |
jungen Kollegen, die in den anderen Zimmern sitzen, andere Schuhe tragen. | |
Wenn die Vice-Pressesprecherin sagt, die DNA von Vice sei immer noch Sex, | |
Drugs and Rock ’n’ Roll, und man fragt Himmelreich nach ihrer | |
Rock-’n’-Roll-Erfahrung, erzählt sie von ihrem letzten Konzert mit | |
Mitgliedern der Band La Brass Banda in einer Berliner Kneipe. Schön unhip. | |
Und auf irgendeine Weise macht das Hoffnung. Weil man sich denkt, sie hat | |
eben keine Zeit, herauszubekommen, welche Squeeze-Rapperin aus Illinois mit | |
46 Likes das nächste Ding wird, weil sie recherchieren muss, wie Arbeiter | |
ausgenommen werden. | |
Für die Vice, die – zu Recht – manchmal belächelt wird, weil ihre Artikel | |
auch Überschriften haben wie „Ich hatte Sex in einem Restaurant und wurde | |
dabei beobachtet“ oder „Wenn im eigenen Körper Gemüse wächst“, also | |
vermutlich ein schlauer Move, jemanden wie Laura Himmelreich zu holen, die | |
von sich behauptet, gut kochen zu können, und gerne zu Partys in ihr | |
Wohnzimmer einlädt. | |
## Schon wieder ein Shooting | |
Wir gehen runter in die Redaktion, um Fotos zu machen. Es ist ihr | |
unangenehm, dass dort jetzt schon das dritte Fotoshooting stattfindet. Das | |
sagt sie mehrmals. Sie spricht viel von „Wir“ und dem „Team“. „Transp… | |
ist wichtig. Seinem Team zu erklären, warum man Dinge entscheidet. Woran | |
man gerade arbeitet. Ein klare Erwartungshaltung zu formulieren. Und auch | |
ein Vertrauen in die Leute zu haben, denn die sind hier, weil sie gut | |
sind.“ Man glaubt ihr sofort. | |
Auch bei ihrem alten Arbeitgeber hat sie nichts zu kritisieren. Zum | |
Abschied hat sie einen Kapuzenpulli von den Kollegen bekommen. „Print ist | |
nicht tot, es riecht nur komisch“ steht darauf. Und während man denkt, das | |
ist genau die Art von Humor, die einen aus den Redaktionen mit den alten | |
grauen Herren treibt, die glauben, die Zukunft seien Hoodies und witzige | |
Sprüche, befindet Himmelreich: „Ich habe gelacht, den Pulli gleich | |
angezogen und mich sehr darüber gefreut.“ | |
Ihr Thema, das sie vom Stern mitbringen möchte, ist soziale Gerechtigkeit; | |
ihre letzte große Geschichte dort handelt vom Missbrauch von Leih- und | |
Werksarbeitern bei Rossmann. Sie hat auch mal eine Hartz-IV-Familie über | |
Monate begleitet, deren Leben dokumentiert und nebenbei bei der | |
Abzockerfirma angerufen, die der Familie Lexika für Tausende von Euro | |
aufgeschwatzt hatte, und davon überzeugt, dass der Familie die Schulden | |
erlassen werden. „Journalisten sollten den Finger in die Wunde legen, wo | |
etwas schief läuft. Sie sollten Menschen eine Stimme verleihen, die sich | |
selbst kein Gehör verschaffen können. Da bin ich idealistisch.“ | |
Himmelreichs Mutter arbeitet in der Altenpflege; auch sie hat da gejobbt, | |
das hat sie politisiert. Ungerechtigkeit empört sie, das treibt sie an. Und | |
Gerechtigkeitsfragen interessieren auch viele junge Leute, glaubt | |
Himmelreich. Sie klingt noch nicht so desillusioniert wie Kollegen, die | |
immer nur hören, dass die Auflage sinkt. | |
## Kein Google-Alert | |
Trotzdem musste sie erleben, dass Brüste mehr Aufmerksamkeit bekommen als | |
ausgebeutete Arbeiter. Aber das ist etwas, was sicher auch auf einen Job | |
bei Vice vorbereitet. Und was hat sie sonst durch die Sexismusdebatte | |
gelernt? „Es ist gut, zu merken, wie es ist, wenn über einen geschrieben | |
wird. Es schärft das Bewusstsein, was Texte für Wirkungen auf den | |
Protagonisten haben können.“ | |
Laura Himmelreich hat während der Brüderle-Aufregung den Google Alert auf | |
ihren Namen nicht abgestellt, weil sie gar keinen hat. Sie hat den | |
Wikipedia-Artikel über sich nicht selbst ediert. Das unterscheidet sie | |
vermutlich von den meisten Journalisten. Sie hat nicht alles über sich | |
gelesen, was geschrieben wurde, „sonst wäre ich durchgedreht“. Warum der | |
dritte Vorschlag zur Erweiterung der Google-Suche nach ihrem Namen „Jüdin“ | |
ist, weiß sie auch nicht. Nur so viel: „Irgendwann wurde „Laura Himmelreich | |
Brüste“ verdrängt von „Laura Himmelreich Jüdin“. „Die Gedanken der | |
Google-Sucher sind unergründlich. Ich befürchte, sie offenbaren auch das | |
ein oder andere gesellschaftliche Problem.“ Sie gehört keiner | |
Religionsgemeinschaft an, und das als Münchnerin. | |
Als Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer kürzlich mit der These, Himmelreich | |
habe mit dem Anstoß zur Sexismusdebatte das Entstehen der AfD befördert, | |
für Heiterkeit in Berlin sorgte, traf sie ihn abends auf dem Sommerfest des | |
Sterns. „Ich habe ihm gesagt, dass der Text unter seinem Niveau war. Und da | |
war ich nicht die Einzige.“ Da wollte Fleischhauer ein Selfie mit der | |
Journalistin machen. Auf dem Foto lächelt Himmelreich triumphierend, aber | |
nett und hat ihren Ellenbogen auf seiner Schulter abgelegt, als stünde sie | |
mit einem Fuß auf seiner am Boden liegenden Brust. Aber das kann natürlich | |
auch Projektion sein. | |
4 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Laura E. Ewert | |
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