# taz.de -- Rape Culture und Trolle auf Twitter: Was zu beweisen war | |
> Menschen, die eine Vergewaltigung erlebt haben, twittern über ihre | |
> Sprachlosigkeit – und ernten Spott und Drohungen. Ganz toll, Internet. | |
Bild: Schweigen kann viele Gründe haben. | |
Das Internet hat mal wieder gezeigt, was es kann: hilfreich, schnell und | |
scheiße sein, und zwar alles gleichzeitig. Los ging es mit Clickbait von | |
Springer: Am Samstag [1][veröffentliche Welt Online] einen Text über die | |
Kunst- und Kulturhistorikerin Camille Paglia, die nicht nur | |
Klimawandelleugnerin ist, sondern kürzlich auch erklärt hat, es gäbe eine | |
„geschwätzige Propaganda“ über Vergewaltigung. Frauen würden sich zu sehr | |
als Opfer darstellen und von einer „überpolitisierten, opferzentrierten | |
Rhetorik“ verführen lassen: „[2][Rape Culture]“ sei ein „lächerlicher | |
Begriff“. | |
„Sex ist immer ein gefährliches Wagnis“, sagt Paglia in [3][einem | |
englischen Interview], aus dem Welt Online einen Text machte mit dem Titel | |
„Das Schreckensmärchen von der Vergewaltigungskultur“. Eine Frau, die über | |
andere Frauen herzieht, das klickt immer gut. | |
Viele Frauen, die auf Fragebögen angekreuzt hätten, sexualisierte Gewalt | |
erlebt zu haben, hätten diese nie angezeigt, schrieb Welt Online und | |
fragte: „Vielleicht geht es in vielen Fällen gar nicht um Vergewaltigungen, | |
sondern um Sex im Zustande des Vollrausches und nachträgliche Reue?“ – Das | |
ist ein Denkfehler, den man genau dann macht, wenn man keine Ahnung von | |
sexualisierter Gewalt hat. Oder wenn man sich gern einreden will, dass | |
bestimmt alles okay ist. | |
Wenn jemand sexualisierte Gewalt erlebt hat und darüber nicht spricht oder | |
sie nicht anzeigt, heißt es eben nicht, dass die Tat nicht stattgefunden | |
hat. Es kann viele Gründe haben, warum Menschen schweigen. Über diese | |
Gründe muss man sprechen, fanden am Samstag einige Twitter-Nutzer_innen. | |
Unter dem Hashtag [4][#whyisaidnothing] – warum ich nichts sagte – begann | |
Marlies Hübner ([5][@outerspace_girl]), zu erzählen, warum sie selbst über | |
ihre Erfahrungen nicht sprechen konnte. Weil ihr gesagt wurde: [6][“Du | |
wolltest es doch auch“]. Weil sie die Tat nicht [7][bei einem männlichen | |
Polizisten anzeigen] wollte. Weil die [8][körperlichen Schäden] „nicht | |
genug“ waren. Weil sie gelernt hatte, [9][sich zu schämen]. | |
„Ich hatte das Bedürfnis, mich dem Artikel in der Welt, in dem Rape Culture | |
verleugnet wurde, entgegenzustellen“, sagt Hübner. „Ich empfand es als | |
dringend notwendig, aufzuzeigen, dass Vergewaltigungen und sexuelle | |
Übergriffe, die nicht zur Anzeige gebracht werden, trotzdem existieren.“ | |
Schnell fanden sich weitere Frauen und Männer, die über ihre Erfahrungen | |
berichteten. Der Hashtag verbreitete sich so schnell, dass er in der Nacht | |
von Samstag auf Sonntag zum zweitmeistbenutzten Schlagwort in Deutschland | |
wurde. | |
## Nach dem vierten oder fünften „Nein“ | |
Eine ähnliche Aktion hat es mit [10][“Ich hab nicht angezeigt“] schon 2012 | |
gegeben. Damals ging es explizit um Anzeigen sexualisierter Gewalt. Bei | |
#whyisadnothing ging es nun auch schon ums bloße Reden über die | |
Erfahrungen. | |
„Weil ich mir nach dem vierten oder fünften Nein albern vorkam, aber auch | |
keine hysterische Szene machen wollte“, [11][schrieb eine Frau]. [12][Eine | |
andere]: „Weil in meiner Erziehung Sexualität als die Pflicht der Frau | |
gegenüber dem Mann definiert wurde“. Einige berichteten von ihrer Angst, | |
nur noch als Opfer gesehen zu werden oder als Junge oder Mann nicht als | |
Opfer anerkannt zu werden. Andere erzählten, sie hätten zum Zeitpunkt der | |
Tat schlicht nicht verstanden, was da passierte, weil sie zu jung waren | |
oder es nicht wahrhaben wollten. Oder weil sie es lieber vergessen wollten. | |
„Dass es einen solchen Zuspruch geben würde, habe ich nicht erwartet“, sagt | |
Marlies Hübner. | |
Doch schon nach wenigen Stunden wurde der Hashtag mehrheitlich von Menschen | |
benutzt, die sich über ihn lustig machten. Sie twitterten Witze über | |
Vergewaltigung oder Bilder von gefesselten Frauen und beschimpften und | |
bedrohten diejenigen, die den Hashtag ernsthaft benutzten. „Ihr zieht doch | |
sexuelle Uebergriffe mit euren bescheuerten Hashtags ins Laecherliche. | |
Vedammte Netz-‚Aktivisten‘“, [13][schrieb eine Nutzerin]. „Keiner würde | |
dich rapen“, [14][schrieb jemand einer Frau], die über ihre Erfahrungen | |
berichtete. Sie solle ihr „Maul halten“. | |
Misha Anouk ([15][@misharrrgh]), der Partner von Marlies Hübner, legte | |
deswegen [16][eine Sammlung von ernst gemeinten Tweets] an, ohne die | |
Trolle. „Twitter-User_innen, die ihre Erfahrungen teilten, wurden extrem | |
gemobbt und persönlich angegriffen, vor allem Männer, die Erfahrungen | |
teilten“, sagt Misha Anouk. Dabei wisse er selbst von einer guten | |
Bekannten, dass sie dank des Hashtags das erste Mal über ihre Erfahrung mit | |
sexueller Gewalt gesprochen hatte. | |
## Immer wieder dieselben Vorurteile | |
Die Trolle, die sich über „rape culture“ lustig machten, haben damit | |
gezeigt, wie treffend der Begriff eben leider ist: Das Wort „rape culture“ | |
bedeutet nicht, dass alles, was in unserer Kultur stattfindet, | |
Vergewaltigung ist. Es bedeutet, dass unsere Kultur so beschaffen ist, dass | |
sie sexualisierte Gewalt häufig bagatellisiert, verdeckt und ermöglicht. | |
Viele Menschen [17][schämen sich ohnehin], dass ihnen „so etwas“ passiert | |
ist, oder sind sich nicht sicher, ob das Erlebte „schlimm genug“ war, um | |
[18][als Übergriff zu gelten]. | |
Einer der häufigsten Vorwürfe gegen Menschen, die über sexualisierte Gewalt | |
sprechen, ist, dass sie nur Aufmerksamkeit wollen. Der traurige Witz ist, | |
dass über sexualisierte Gewalt zu sprechen zwar Aufmerksamkeit bringt, aber | |
keine gute: Betroffene, die von eigenen Erfahrungen berichten, werden immer | |
wieder mit denselben Vorurteilen konfrontiert und oft nicht ernst genommen. | |
Immer wieder werden ihnen dieselben Dinge vorgeworfen: Sie hätten die | |
beschriebene Erfahrung nicht wirklich erlebt oder es sich erst im | |
Nachhinein anders überlegt. Sie hätten [19][den Täter zur Tat „gereizt“] | |
durch Kleidung/Verhalten/Aufenthaltsort oder sich während der Tat nicht | |
hinreichend gewehrt. Sie würden dem vermeintlichen Täter schaden wollen, | |
indem sie seinen Ruf zerstören. Sie seien „zu hässlich“, um vergewaltigt … | |
werden oder würden Sex doch sonst auch mögen – oder eben nicht verstehen, | |
was Sex ist. Außerdem würden Frauen doch [20][eh immer „nein“ sagen], wenn | |
sie „ja“ meinten. | |
All das ist auch bei #whyisaidnothing passiert. Leute fragten, ob die | |
Initiatorin des Hashtags [21][schon einen Vertrag bei Random House] habe | |
oder sprachen davon, dass der Hashtag jetzt auch vergewaltigt werden müsse. | |
Dabei ist die bloße Existenz von Tweets zum Thema sexualisierte Gewalt | |
natürlich nur ein kleiner, wenn auch wichtiger Schritt in der Debatte. | |
Ähnlich wie bei anderen Twitter-Aktionen wie den Hashtags [22][#aufschrei] | |
(über Alltagssexismus), [23][#notjustsad] (über Depressionen), | |
[24][#schauhin] (über Alltagsrassismus) oder kürzlich | |
[25][#CampusRassismus] (über Rassismus an der Uni) generiert sich hier | |
Glaubwürdigkeit immer noch nicht über die Rede der einzelnen Person, | |
sondern über die Masse der immer wieder ähnlichen Erlebnisse: Oft wird | |
marginalisierten Gruppen erst geglaubt, wenn die Menge an Aussagen | |
überwältigend ist – aber genau dafür ist Twitter ein gutes Instrument. Auch | |
wenn die Reaktionen, die eine solche Aktion hervorruft, immer noch krass | |
sind. „Der größte Vorteil und der größte Nachteil am Internet: Jeder darf | |
rein“, [26][twitterte Marlies Hübner] am Sonntag. | |
21 Dec 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.welt.de/kultur/article150145370/Das-Schreckensmaerchen-von-der-V… | |
[2] /!5075574/ | |
[3] http://www.spiked-online.com/spiked-review/article/feminist-trouble/17688#.… | |
[4] http://twitter.com/hashtag/WhyISaidNothing?src=hash | |
[5] http://twitter.com/outerspace_girl | |
[6] http://twitter.com/outerspace_girl/status/678287848274010113 | |
[7] http://twitter.com/outerspace_girl/status/678287909187919872 | |
[8] http://twitter.com/outerspace_girl/status/678288507492835329 | |
[9] http://twitter.com/outerspace_girl/status/678289305350090753 | |
[10] http://ichhabnichtangezeigt.wordpress.com/ | |
[11] http://twitter.com/FinjaReloaded/status/678334676973563904 | |
[12] http://twitter.com/Tanzhirsch/status/678310777300848640 | |
[13] http://twitter.com/Sarah1989xyz/status/678405236973793280 | |
[14] http://twitter.com/MacArthurRU/status/678612179462037506 | |
[15] http://twitter.com/misharrrgh | |
[16] http://storify.com/misharrrgh/frauen-erzahlen-weshalb-sie-eine-vergewaltig… | |
[17] http://twitter.com/ForgottenAlice_/status/678596230918836225 | |
[18] http://twitter.com/ueberleben_ja/status/678367357916618752 | |
[19] /Hotpantsverbot-an-Schulen/!5210457/ | |
[20] http://twitter.com/wolfofru/status/678600638658428928 | |
[21] http://twitter.com/mipff/status/678353873971597312 | |
[22] /Debatte-Sexismus/!5050531/ | |
[23] /Die-Streitfrage/!5013102/ | |
[24] /Twitter-will-Meldefunktion-verbessern/!5027064/ | |
[25] /Twitter-Aktion-%2523CampusRassismus/!5261428/ | |
[26] http://twitter.com/outerspace_girl/status/678513881057071104 | |
## AUTOREN | |
Margarete Stokowski | |
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