# taz.de -- Kommentar Sexuelle Gewalt in Indien: Belagert von Männern | |
> Der Mangel an staatlichen Grundleistungen sorgt dafür, dass Indiens | |
> Frauen sexueller Gewalt ausgeliefert bleiben. Die liberale Elite verkennt | |
> das. | |
Bild: Selbstverteidigungskurs für Frauen in einer Mall in Mumbai. | |
Es müsste so viel geschehen. Indiens Frauen sind belagert von einem | |
gewaltbereiten Männervolk. Ein US-kanadisches Forscherteam von der New York | |
University und der University of British Columbia (Siwan Anderson/Debraj | |
Ray) hat kürzlich berechnet, dass in Indien bereits 25 Millionen Frauen | |
fehlen, die Opfer von selektiven Abtreibungen, selektiver Unterernährung, | |
Vergewaltigungen, Brautverbrennungen und anderen Diskriminierungen wurden. | |
Jedes Jahr, so Siwan Anderson und Debraj Ray, würde Indien weitere zwei | |
Millionen Frauen verlieren. | |
Gegen diese Massenvernichtung von Frauen war die indische Gesellschaft | |
bisher wehrlos. Daran änderte auch eine profilierte Frauenbewegung nichts. | |
Keine Sonia Gandhi, die das Land seit 2005 regiert, keine Arundhati Roy, | |
die zu den am meisten beachteten Schriftstellerinnen der Welt zählt, | |
konnten der Gewalt gegen die indischen Frauen bisher Einhalt gebieten. | |
Powerfrauen wie sie, von denen Indien dringend mehr braucht, verstärkten | |
jedoch im Ausland den falschen Eindruck, dass sich Indiens Frauen schon zu | |
wehren wüssten. Doch dem war in Wirklichkeit nie so. | |
Erst die jüngsten Proteste gegen die Schreckenstat von sechs Männern an | |
einer Medizinstudentin in Delhi haben die Hoffnung aufkeimen lassen, dass | |
heute ein breiterer Teil der indischen Gesellschaft die Bedrohung der | |
Frauen ernst nimmt. Zum ersten Mal nahmen auch viele Männer an den | |
anschließenden Demonstrationen teil. | |
Indiens neue Medien, zu denen auch die vielen populären privaten | |
Fernsehsender zählen, die es vor zehn Jahren noch nicht gab, nahmen sich | |
wie nie zuvor des Frauenthemas an. Es war die Stunde der Starmoderatoren, | |
die auf dem Bildschirm auf ewig-gestrige Gurus und Politiker schimpften, | |
welche die Vergewaltigungstat immer noch relativierten. | |
Aber auch Regierung, Justiz und Polizei wollten nach anfänglichem Zögern | |
zumindest so tun, als würden sie mitziehen. In der Hauptstadt Delhi werden | |
nun Polizistinnen rund um die Uhr auf jeder Polizeistation eingesetzt. Die | |
Justiz in Delhi verspricht, Tausende von aufgestauten | |
Vergewaltigungsprozessen mit dem Einsatz zusätzlicher Richter schnell zu | |
lösen. Noch immer berichten die Zeitungen auf ihren Titelseiten von neuen | |
Vergewaltigungsfällen, die früher nur eine Kurzmeldung wert waren. Der gute | |
Wille bleibt zumindest vielerorts erkennbar. | |
## Angst vor mehr staatlicher Macht | |
Zur gleichen Zeit aber mehren sich die Zweifel des traditionell liberalen | |
Teils der indischen Öffentlichkeit. Hinter dem Ruf nach mehr Sicherheit für | |
Frauen machen sie unschwer das allgemeine Bedürfnis nach mehr Macht und | |
Autorität des Staates aus. Schon befürchten diese Stimmen, dass am Ende nur | |
ein brachial auftretender Politiker wie der Ministerpräsident des | |
Bundesstaates Gujarat, Narendra Modi, von den Protesten profitieren und die | |
nächste Parlamentswahl gewinnen könnte. | |
Doch die Liberalen verkennen einen Kern des Problems. Es ist tatsächlich | |
ein Mangel an staatlichen Grundleistungen, welcher der Gewalt gegen Frauen | |
keine Grenzen setzt. Kaum eine indische Frau traut sich bisher auf eine | |
Polizeistation. Das lässt sich ziemlich leicht ändern. Delhi bemüht sich | |
gerade darum. | |
Ebenso lassen sich Vergewaltiger vor Gericht verurteilen, wenn die Justiz | |
es wirklich will. Zudem bietet die Gewalt gegen Frauen den Medien | |
Endlosstoff: Denn ihre Spur führt ins Innere der indischen Großfamilie, wo | |
es Onkel und Tanten sind, die auf der Abtreibung des weiblichen Fötus | |
bestehen, oder der Cousin seine Kusine vergewaltigt. Ein großes Fressen für | |
Bollywood? | |
Und doch bleiben Zweifel, ob das anfängliche Aufbäumen von Männern, Medien, | |
Filmindustrie und Teilen des Staatsapparats irgendeine Wirkung hinterlassen | |
wird. Gerade an seiner Spitze wird Indien heute von einer unerträglichen | |
Selbstzufriedenheit getragen. Die oberste Politiker-, Unternehmer- und | |
Künstlerklasse des Landes spiegelt sich seit Jahren voller Lust in ihrem | |
demokratischen Selbstbild. | |
Es braucht schon noch mehr Protest, um diesen Leuten – von einem | |
Schriftsteller wie Salman Rushdie über einen Unternehmer wie Ratan Tata bis | |
zu einem Politiker und Schriftsteller wie Shashi Tharoor – zu beweisen, | |
dass in dem Leben der indischen Frauen zurzeit etwas grundfalsch läuft. | |
16 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
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