# taz.de -- Sexuelle Gewalt in Indien: Wir sind alle Daminis | |
> Indien diskutiert die systematische Missachtung von Frauen. Selten werden | |
> Übergriffe geahndet, denn auch der Staat missbraucht seine Bürgerinnen. | |
Bild: Demonstrantin bei einem Trauermarsch für das Vergewaltigungsopfer Damini… | |
Seit der Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in Neu-Delhi am | |
16. Dezember halten die Proteste in den Straßen der indischen Hauptstadt | |
und die Diskussionen zur Situation von Frauen in der größten Demokratie der | |
Welt an. Wofür stehen die grausame Gewalttat und die sich an ihr | |
erhitzenden Debatten? Wie ist es um die Sicherheit und Rechte der Töchter | |
dieses an ökonomischer und politischer Bedeutung gewinnenden Global Players | |
bestellt? Und worin könnte eine solidarische Perspektive auf die Ereignisse | |
bestehen? | |
Der Fall von „Damini“, wie das bis vor wenigen Tagen anonyme | |
Vergewaltigungsopfer auch genannt wurde, hat in Indien eine in solcher | |
Sichtbarkeit und Breite bislang nicht da gewesene Debatte über | |
frauenfeindliche Gewalt ausgelöst. Sie wird vor allem von einer urbanen | |
Mittelschicht und einer neuen ökonomischen und intellektuellen Elite | |
getragen – und so geht es auch vor allem um Probleme, die deren | |
Lebensalltag betreffen. | |
Die Seite an Seite mit ihren Müttern und Freunden demonstrierenden jungen | |
Frauen wissen, dass das Schicksal des bis vor einigen Tagen namenlosen | |
Vergewaltigungsopfers ebenso ihnen zuteil werden könnte, wenn sie abends | |
ausgehen oder von der Arbeit nach Hause fahren. Diese Frauen sind gebildet, | |
selbstbewusst und kritisch. Für sich und für ihre Schwestern fordern sie | |
ein selbstbestimmtes Leben, einen sicheren und gleichberechtigten Zugang | |
zum öffentlichen Raum. Dabei üben sie scharfe Kritik an den | |
diskriminierenden Strukturen, die der ihre Gesellschaft durchdringenden | |
sexuellen Belästigung von Frauen und Vergewaltigungen Vorschub leisten. | |
## Kritik an Passivität von Polizei und Politik | |
An Gesetzen zum Schutz von Frauen vor Gewalt und Diskriminierung fehlt es | |
in Indien nicht. Ihre Implementierung wird jedoch vielerorts durch | |
männlichen Chauvinismus und den fehlenden Willen, Sexualdelikte aufzuklären | |
und Täter zur Rechenschaft zu ziehen, erschwert. Insbesondere Polizei und | |
Politiker kommen darum in der medialen Kritik schlecht weg. So laufen gegen | |
knapp ein Drittel aller Parlamentarier in Indien Verfahren wegen sexueller | |
Übergriffe. Um Vergewaltigungen zu verhindern, fordern manche von ihnen | |
nächtliche Ausgangssperren für Frauen, anstatt eine urbane Infrastruktur zu | |
schaffen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit Sicherheit bietet. Einige | |
machen gar den Kleidungsstil oder das Freizeitverhalten junger Städterinnen | |
für Verbrechen wie die Vergewaltigung mitverantwortlich. | |
Solche Äußerungen sind repräsentativ für ein konservatives Denken, das die | |
Verantwortung für die männlichen Triebe nur bei den Frauen und ihrem | |
Verhalten verortet. Dies wird von den protestierenden Frauen jedoch nicht | |
mehr akzeptiert. Der Fall Damini verweist nicht nur auf die soziale, | |
sondern auch auf eine tiefe ideologische Kluft, die die indische | |
Gesellschaft durchzieht. Und die muss dringend politisch verhandelt werden. | |
Konservative Politiker aus dem hindunationalistischen Milieu sehen die | |
zahlreichen Vergewaltigungen als Folge der sich rasant entwickelnden | |
anonymen Metropolen, während in einem nach dieser Lesart wahreren Indien | |
der Dörfer kulturelle Werte griffen, die sexuelle Übergriffe verhindern. In | |
der gegenwärtigen Diskussion wurde jedoch auch die bislang wenig beachtete | |
Gewalt gegen Frauen weitab von den Sorgen und der Lebenswelt der | |
streitbaren urbanen Mittel- und Oberschicht zur Sprache gebracht. | |
Häufig wird diese innerhalb eines Machtgefälles ausgeübt, das nicht nur | |
durch das Geschlecht, sondern auch sozial bestimmt ist – wodurch Täter umso | |
weniger mit Sanktionen zu rechnen haben. In diesem Zusammenhang seien | |
Vergewaltigungen innerhalb der Familie genannt, der von weiblichen | |
Hausangestellten, von Frauen aus niederen sozialen Schichten, auch die | |
zahllosen ungeahndeten Vergewaltigungen von Frauen durch Angehörige der | |
indischen Armee in den Konfliktgebieten innerhalb der Grenzen des indischen | |
Hoheitsgebiets, so etwa in Jammu und Kaschmir und im Nordosten des Landes. | |
Mehrere Sondergesetze schützen die Soldaten in diesen Regionen selbst dann | |
vor Strafverfolgung, wenn Anzeigen gegen sie vorliegen. Bis heute zum | |
Beispiel wurden jene Täter nicht zur Rechenschaft gezogen, die in einer | |
Nacht des Jahres 1991 etwa 50 Frauen in dem Dorf Kunan Poschpora in Jammu | |
und Kaschmir vergewaltigt hatten. Sie stammten aus den Reihen des Militärs. | |
In solchen Fällen geht es um mehr als das Patriarchat, männlichen | |
Chauvinismus und unwirksame staatliche Strukturen. | |
Es ist der indische Staat selbst, der als Täter in Uniform auftritt, der | |
seine eigenen Bürger sexuell missbraucht, wo er sich zu deren Schutz | |
verpflichtet hat. Wie in anderen Konflikten weltweit wird auch hier | |
sexuelle Gewalt als militärische Waffe eingesetzt. Beraubt sich die | |
Indische Union durch diesen systematischen Bruch des internationalen Rechts | |
nicht selbst der Legitimation ihrer politischen Forderungen als | |
aufstrebende Weltmacht? Hier wirken keineswegs die Mechanismen eines | |
Entwicklungslandes mit überholten, kulturell verwurzelten Strukturen, | |
sondern das hocheffektive Gefüge eines seine Interessen erfolgreich | |
durchsetzenden, imperial agierenden Staates. | |
Diese Manifestationen sexueller Gewalt in Indien müssen sowohl in der | |
dortigen Debatte als auch hierzulande stärker in den Blick genommen werden | |
und das Verhältnis des politischen Zentrums Indiens zu seinen Rändern | |
genauso wie unser Verhältnis zu unserem wichtigsten Handelspartner in | |
Südasien neu bestimmen. | |
## Eine neue Debatte über sexualisierte Gewalt | |
Daminis Vergewaltigung hat eine Gesellschaft zum Innehalten und zur | |
kritischen Selbstbetrachtung gebracht. In den Medien und auf | |
Demonstrationen wurden gesellschaftliche Praktiken und Strukturen benannt, | |
die Frauen diskriminieren und Gewalt gegen sie begünstigen, und deren | |
Veränderung gefordert. Die Solidarität mit den indischen Frauen darf sich | |
jedoch nicht auf die Betrachtung der dortigen Probleme oder die | |
feministische Bewegung auf der Straße beschränken. Genauso laufen | |
stereotype Beschreibungen einer frauenfeindlichen indischen Kultur Gefahr, | |
in kultureller Selbstvergewisserung zu enden – dies wiederum wäre Wasser | |
auf die Mühlen der hiesigen Konservativen, die keinen Handlungsbedarf in | |
Sachen Diskriminierung und frauenfeindlicher Gewalt sehen. Solidarität kann | |
für Deutschland nur ein ebensolches selbstkritisches Innehalten bedeuten, | |
sowohl mit Blick auf Indien als auch auf feministische Anliegen in unserer | |
Gesellschaft. Denn auch hier wäre eine Debatte, die Diskriminierung und | |
Gewalt gegen Frauen thematisiert und die Politik zum Handeln zwingt, | |
wünschenswert. | |
Die vom indischen Staat durch sein Militär ausgeübte sexuelle Gewalt muss | |
in der aktuellen Diskussion eine größere Rolle spielen – für Aktivistinnen | |
genauso wie für Politiker. Denn die Verletzlichkeit Daminis teilen alle | |
Frauen, in Delhi wie in Kaschmir und auch hierzulande. | |
16 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Maritta Schleyer | |
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