# taz.de -- Sexuelle Gewalt in Indien: Die Brigade der Tapferen | |
> Die Mädchen der „Roten Brigade“ einer indischen Schule tragen rot und | |
> signalisieren damit: Rühr mich nicht an! „Wir sind nirgendwo sicher“, | |
> sagt Afreen. | |
Bild: Über den Dächern von Lucknow: Die „Rote Brigade“ stärkt das Selbst… | |
LUCKNOW taz | Usha Vishwakarma schwingt sich von der Autorikscha auf die | |
Straße und drückt dem Fahrer schnell einen Zehnrupienschein in die Hand. | |
Bloß weg hier! Usha – 25, ledig, Lehrerin – hasst Rikschas. Eben noch saß | |
sie eng gedrängt mit vier Männern auf der Rückbank. Ihr Knie berührte ein | |
Männerknie, das war unvermeidbar. | |
Eher vermeidbar wären die Männerblicke, die bei der Fahrt auf ihr ruhten. | |
Große braune Augen, ein langer schwarzer Zopf – Usha ist eine Frau, die | |
Blicke auf sich zieht. Umso unauffälliger kleidet sie sich: Jeans, darüber | |
ein unförmiger brauner Mantel. Für Usha sind das Schutzmaßnahmen. Gerade | |
auch für die Rikscha. | |
Schon ist sie untergetaucht in den Gassen von Lucknow, der überquellenden | |
Millionenmetropole im Herzen von Uttar Pradesh. Uttar Pradesh ist Indiens | |
größter Bundesstaat: ein Armenhaus mit mehr Einwohnern als Brasilien oder | |
Indonesien. Lucknow ist die Hauptstadt. Hier lebt Usha seit zehn Jahren in | |
dem, wie sie selbst sagt, „gefährlichsten Viertel“ der Stadt. Mediayon gilt | |
als Treffpunkt der Tagelöhner, es ist ein Viertel der Zugezogenen vom Land, | |
die nicht selten ihre Familien zurücklassen, also ein urbanes Männerreich. | |
Usha eilt voraus. Sie kennt jede Hausecke, jeden Samosa-Stand, jeden | |
Trampelpfad. Doch bis zu ihrer Schule ist es ein weiter Weg. Kein Asphalt, | |
keine Pflastersteine, nur Erde und Sand. Der Weg führt vorbei an | |
Gemüseständen, Tischlereien und Malerwerkstätten. Ihr begegnen Männer, | |
Kühe, Wasserbüffel – und gelegentlich eine Frau, gehüllt in einen Sari. | |
## Schnelle Schritte | |
Usha grüßt niemanden, ihr Blick haftet am Boden, ihre Schritte werden immer | |
schneller. Sie überquert einen freien Sandplatz, auf dem ein paar Jungen | |
Kricket spielen. Dann steht sie vor einem Mangobaum. „Hier ist die Schule“, | |
sagt Usha. Ein Dutzend Mädchen in roten Hemden quellen aus einer Haustür | |
und kommen auf sie zugelaufen. | |
Die Rothemden sind Lucknows „Rote Brigade“, und Usha ist ihre Führerin. | |
Nicht dass sie wüssten, wer einmal die Roten Brigaden in Italien oder die | |
Roten Garden in China waren. Ihren Namen haben sie auf Facebook entdeckt. | |
Doch in ganz Indien machte ihre Geschichte dank eines Berichts im | |
Wochenmagazin [1][Outlook] die Runde, allerdings besuchte noch nie ein | |
Journalist die Gruppe. | |
Umso aufgeregter sind die Mädchen jetzt. Sie sind zwischen 14 und 19 Jahre | |
alt, die Jüngeren besuchen noch Ushas Schule, die Älteren helfen ihr beim | |
Unterrichten. Um die 150 Schülerinnen und Schüler kommen in ihre | |
Nachbarschaftsschule, die kein Schulgeld kostet und, anders als die | |
öffentlichen Schulen, funktioniert. Die Rote Brigade ist Teil der Schule, | |
hierzulande würde man sagen: eine AG. Die Teilnehmerinnen wollen wissen, wo | |
Deutschland liegt. Bald stellen sie tausend Fragen. Schüchtern sind sie | |
nicht. | |
Die Brigadechefin muss erst mal ein Missverständnis aus der Welt räumen. | |
Weder sie noch eines der 15 Mitglieder ihrer Brigade seien | |
Vergewaltigungsopfer. Nur würde den meisten von ihnen die sexuelle Gewalt | |
im Alltag ständig begegnen. „Gerade um jedem Vergewaltigungsversuch | |
zuvorzukommen, haben wir unsere Gruppe gegründet und tragen die roten | |
Hemden“, sagt Usha. Die Idee für die Brigade kam der Lehrerin vor zwei | |
Jahren, als sie dem Vergewaltigungsversuch eines Kollegen knapp entkam. | |
„Nur meine Jeans hat mich gerettet“, erzählt sie den Mädchen und sofort | |
entbrennt heftiges Geschrei. | |
Die einen, die schon Jeans tragen dürfen, freuen sich. Die anderen im Sari | |
schimpfen auf ihre Mütter und Väter, die ihnen nur die traditionelle | |
Kleidung erlauben. Sie sagen, die könne jeder Mann leicht zerreißen. | |
Lakshmi, die schon älter ist, mahnt: „Wechselt nicht eure Kleider! Ändert | |
eure Gedanken.“ Ein Mädchen stimmt zu: „Nach jeder Vergewaltigung fragt | |
man, was für Kleider die Frau trug. Das ist unfair.“ | |
## Die Ehre der Familie | |
Die Gruppe hat sich auf dem sonnenbeschienenen Dach von Ushas Familienhaus | |
versammelt. Dort wohnt Usha gemeinsam mit den Eltern, zwei Schwestern, die | |
Mitglied ihrer Brigade sind, und einem kleinen Bruder. Der Mangobaum, unter | |
dem an Schultagen der Unterricht im Freien stattfindet, steht rechts vom | |
Haus. Gerade sind Winterferien. Also haben die Rothemden viel Zeit. Nach | |
einer Weile beginnen sie von sich zu erzählen. | |
Afreen, die älteste Schwester von Usha, erlebte den Vergewaltigungsversuch | |
des Cousins eines Nachbarn, der zum Studieren nach Lucknow gekommen war. | |
Sie wollte ihn bei der Polizei anzeigen. Doch ihre Mutter riet ab. Man | |
könne mit der Anzeige seine ganze Karriere zerstören. „Wenn du deiner | |
Mutter etwas sagst, wird sie sich abwenden und sagen: Treib dich mit diesem | |
Mann nicht mehr herum. Ihr geht es nur um die Ehre der Familie“, | |
schlussfolgert Lakshmi aus Afreens Erzählung. | |
Bei Neelam, einem 15-jährigen Brigademitglied, war eher der Vater das | |
Problem. Er empfing regelmäßig zwei Freunde aus der Nachbarschaft. Bei | |
ihren Besuchen flirteten die zwei mit ihr und einer Cusine aufdringlich, | |
später versuchten sie sie zu streicheln. Neelam wehrte sich, doch ihre | |
Cousine wurde Opfer sexueller Belästigung. Als Neelam den Eltern | |
berichtete, schritt die Mutter ein und beklagte sich bei den | |
Nachbarfamilien, doch der Vater stellte sich taub und empfing weiter seine | |
Freunde. | |
Die sexuelle Gewalt, so sagen die Mädchen einstimmig, beginne immer in der | |
Familie. Die Jungen genössen mehr Freiheiten, von ihnen würde stets | |
erwartet, ihren Körper zu verstecken und im Zweifel nicht zu klagen. Wenn | |
dann was passiere, wenn Freunde oder Verwandte sie belästigten, bliebe das | |
in den vier Wänden der Familie. „Wir sind nirgendwo sicher“, sagt Afreen. | |
„Wenn wir zu Hause nicht sicher sind, wie können wir uns dann auf der | |
Straße sicher fühlen?“ | |
## Betätscheln nach dem Unterricht | |
So gehen die Geschichten weiter. Puja musste vor ihrem Schuldirektor | |
fliehen, weil dieser sie nicht wie andere mit dem Stock bestrafte, sondern | |
nach der Missetat zu sich ins Büro holte und betätschelte. Hajra musste | |
sich gegen die Annäherungsversuche des benachbarten hinduistischen | |
Priesters wehren, der sie in einem Hinterzimmer allein antraf, als sie | |
seiner Frau beim Waschen der Saris half. | |
Vor all diesen Gefahren aber gab es für die Mädchen bisher keinen Schutz: | |
Weder Eltern noch Lehrer, weder Priester noch Polizei gestanden zu, dass | |
man ihnen Gewalt antun wollte. Deshalb ist die Rote Brigade für sie heute | |
so wichtig. Bei Usha fühlen sie sich sicher. Ihre roten Hemden | |
signalisieren zudem: Rühr mich nicht an! So viel, glaubt Usha, haben | |
inzwischen sogar die Tagelöhner von Mediayon verstanden. | |
Kein Wunder also, wenn die Gruppe in den letzten Wochen durch die indischen | |
Medien ging. Nirgendwo in Indien schien eine Frauengruppe eine bessere | |
Antwort auf die schreckliche Vergewaltigungstat an einer Medizinstudentin | |
in Delhi parat zu haben, die zuletzt so viel Empörung und Aufruhr zu | |
erregen schien. | |
Doch Usha und ihre Mädchen machen sich keine Illusionen: Lucknow sei nicht | |
Delhi, wo viele protestiert hätten. In ihrer Umgebung seien fast alle der | |
Meinung, dass die Medizinstudentin ihr Schicksal selbst verschuldet habe. | |
„Alle glauben, sie hätte aufreizende Kleider angehabt. Wir sind eine kleine | |
Minderheit“, sagt Lakshmi. Eben nur eine Brigade der Tapferen. | |
## Thema Abtreibung | |
An diesem Tag nutzen die Mädchen die Ferien, um ein Straßentheaterstück zu | |
proben. Mit ihrer Gruppe haben sie bereits einen Theaterpreis in Kalkutta | |
gewonnen. Damals glaubten die Nachbarn, Usha würde die Mädchen in Kalkutta | |
ans Bordell verkaufen. Doch alle kamen wieder. Jetzt üben sie ein Stück, in | |
dem eine angehende Mutter zur Abtreibung ihres Mädchens gezwungen wird, | |
weil der Vater einen Sohn haben will. | |
Auf diese Art der geschlechtsspezifischen Abtreibung, sagen Forscher, hat | |
Indien in den letzten 20 Jahren schon 12 Millionen Frauen verloren. Lakshmi | |
spielt die Mutter: „Bin ich nur ein Objekt, ein Spielzeug in deinen | |
Händen?“, fragt sie. Afreen, die den Vater spielt, antwortet: „Warum | |
strickst du einen rosa Pullover, du Dumme! Mach dich fürs Krankenhaus | |
fertig.“ Dann singt der ganze Chor: „Ist dies ein freies Land? In dem eine | |
Frau kein Mädchen haben kann? In dem die Geburt eines Mädchens ein Unglück | |
ist?“ | |
Vielleicht gewinnt die Rote Brigade mit diesem Stück erneut einen Preis. | |
Sie sind noch so jung, sie haben nur eine mutige Lehrerin. Aber sie stellen | |
sich den drängendsten Problemen ihrer Nation mit einer Direktheit und | |
Ehrlichkeit, die dem kulturell so stolzen Land anderswo fehlt. | |
17 Jan 2013 | |
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## AUTOREN | |
Georg Blume | |
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