# taz.de -- Jahrestag der Revolution in Ägypten: Keine Spur von Polizeireform | |
> Ob unter Mubarak, dem obersten Militärrat oder den Muslimbrüdern – der | |
> Sicherheitsapparat schießt und foltert weiter und Polizisten werden nicht | |
> verurteilt. | |
Bild: Machtfaktor: Ägyptische Polizisten am Samstag in Kairo. | |
KAIRO taz | „Es ist besser, blind zu sein und erhobenen Hauptes durch das | |
Leben zu gehen, als sehen zu können und auf den Boden schauen zu müssen.“ | |
Ein Satz, der von dem jungen ägyptischen Zahnarzt Ahmad Harara stammt, | |
einer der Revolutions-Ikonen des Landes. | |
Ahmad verlor am 28. Januar 2011 während des Aufstandes gegen Mubarak durch | |
ein Gummigeschoss der Polizei sein rechtes Auge. Am 19. November des | |
gleichen Jahres wurde bei einer Straßenschlacht gegen den damals | |
allmächtigen obersten Militärrat durch die Schrotmunition der Polizei sein | |
zweites Auge getroffen. | |
Ahmad hat gegen Mubarak und den obersten Militärrat gekämpft. Jetzt wettert | |
er gegen den gewählten Präsidenten Muhammad Mursi, der von der | |
Muslimbruderschaft stammt. Diejenigen, die für das Auslöschen seines | |
Augenlichts verantwortlich sind, sind auch zwei Jahre nach Beginn des | |
Aufstandes am 25. Januar 2011 weiter in Amt. Von Mubarak bis Mursi sei mit | |
der Reform des Sicherheitsapparates nichts geschehen. „Auch die | |
Muslimbrüder haben das alte Sicherheitsregime nicht angetastet“, sagt | |
Ahmad. | |
Die Zahlen sprechen für sich. Laut einer Studie der | |
Menschenrechtsorganisation „Egyptian Initiative for Personal Rights“ (EIPR) | |
saßen in den vergangenen zwei Jahren 135 Polizeioffiziere im Zusammenhang | |
mit der Tötung von Demonstranten auf der Anklagebank. Nur zwei wurden zu | |
Gefängnisstrafen verurteilt. | |
„Das Problem ist, dass Polizei und Staatsanwaltschaft sich gegenseitig | |
decken. Die Untersuchungsbehörden und die Staatsanwaltschaft schützen die | |
Polizisten, die ein Verbrechen begangen haben, und bestrafen in vielen | |
Fällen stattdessen sogar die Opfer“, erklärt Hossam Bahgat, der Vorsitzende | |
der EIPR. In vielen Fällen agiere die Polizei selbst wie eine | |
Gangstertruppe oder wie ein Stamm, der einen seiner Angehörigen rächt. | |
## Polizisten schießen wild | |
Im Dorf Abu Hilal, in der Nähe der südägyptischen Provinzstaat Minya, kam | |
bei einem Streit zwischen zwei Familien vor einem Monat ein Polizist ums | |
Leben. Daraufhin schickte das Innenministerium ein großes Polizeiaufgebot. | |
Die Polizisten schossen wild um sich, verletzten ein neunjähriges Mädchen | |
schwer, verhaften jeden, der sich auf der Straße befand und zerstörten | |
mehrere Läden im Dorf. | |
Auch unter dem ersten Präsidenten der Nach-Mubarak-Zeit hat sich die Lage | |
kaum geändert. EIPR hat 16 Fälle in den ersten vier Monaten der Amtszeit | |
Mursis dokumentiert, in denen Menschen auf Polizeistationen oder in | |
Gefängnissen zu Tode gefoltert wurden. Das sei nur eine kleine Auswahl, | |
Folter werde weiterhin systematisch angewendet, erklärt Bahgat. Viele | |
hatten gehofft, dass diese Praxis unter einem Muslimbruder-Präsidenten | |
ändern würde, denn es waren gerade die Islamisten, die in den Gefängnissen | |
und Polizeistationen Mubaraks gelitten hatten. Auch Mursi hat unter Mubarak | |
im Gefängnis gesessen. | |
„Jeder spricht von der überfälligen Reform des Sicherheitsapparates, aber | |
einmal an der Macht, traut sich niemand, die politischen Kosten zu tragen“, | |
meint Bahgat. Argumentiert werde immer, man brauche die Polizei, um | |
Stabilität herzustellen. „Sie wollen einfach nicht verstehen, dass es ohne | |
Reform des Sicherheitsapparates keine Stabilität geben wird, das beweisen | |
die letzten Vorfälle in Alexandria und Shcubra El-Kheeima“, sagt er. | |
## Proteste gegen Gerichtsurteile | |
In der Hafenstadt am Mittelmeer stürmten Aktivisten und Angehörige von | |
getöteten Demonstranten am Wochenende ein Gericht, nachdem dieses erneut | |
ein Urteil aufschob. Auf der Anklagebank saßen Polizisten, die sich für den | |
Tod von Demonstranten während des Aufstandes gegen Mubarak verantworten | |
müssen. Die Polizei setzte vor dem Gericht Tränengas und Schrotmunition | |
ein, zwei Polizeifahrzeuge gingen in Flammen auf, 40 Menschen wurden | |
verhaftet. | |
Kurz zuvor war im Kairoer Arbeiterbezirk Schubra El-Kheima eine | |
Straßenschlacht ausgebrochen, nachdem ein Mann erschossen wurde. Er hatte | |
einen Polizeieinsatz gegen einen mutmaßlichen Drogendealer von seinem | |
Balkon aus beobachtet. Daraufhin versuchte eine wütende Menge, die | |
Polizeiwache zu stürmen. Fünf Menschen kamen dabei ums Leben. Gleich nach | |
dem Sturz Mubaraks arbeitete Hossam Bahgat mit seiner EIPR daran, | |
Vorschläge für eine Reform des Sicherheitsapparates zu entwickeln. | |
„Wir haben immer wieder davor gewarnt, dass wir ohne diese Reform schnell | |
wieder dort landen werden, wo die Revolution begann“, zieht er Bilanz. „Das | |
Schlimmste ist, dass wir im letzten Jahr aufgehört haben, über Reformen zu | |
sprechen. Stattdessen schreiben wir wieder Berichte über Polizeigewalt, | |
Folter oder den Einsatz von scharfer Munition gegen unbewaffnete | |
Demonstranten.“ | |
Der blinde Ahmad Harara bleibt dennoch zuversichtlich. „Das Gute ist, dass | |
wir keine Angst mehr haben und die Menschen sich nichts mehr gefallen | |
lassen“, sagt er und fügt hinzu: „Auch wenn es eine Menge Mühe und Zeit | |
kostet, wir werden nicht mehr schweigen, bis sich Ägypten tatsächlich | |
verändert hat.“ | |
24 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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