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# taz.de -- Debatte Ägypten: Heiliges Privateigentum
> Die Muslimbrüder stehen für neoliberales Wirtschaften. Die
> fortschreitende Verelendung Ägyptens interessiert sie nicht. Dem Westen
> kommt das gelegen.
Bild: Die Touristen bleiben wegen der angespannten Lage aus.
Die wirtschaftliche Lage Ägyptens ist katastrophal, die Währung befindet
sich im freien Fall, und Abhilfe ist erst mal nicht in Sicht. Und das,
obwohl der Internationale Währungsfonds die Verhandlungen über einen Kredit
von 4,8 Milliarden Dollar mit der Regierung Mursi wieder aufgenommen hat.
Den Muslimbrüdern fehlt jedes Konzept, um die marode ägyptische Wirtschaft
wieder in Gang zu bringen. Um von diesem Defizit abzulenken, führen sie
abstrakte Debatten über den Islam und seine Rolle im Staat, die Verfassung
und die Scharia.
Trotzdem hat die Mehrheit der Ägypter längst realisiert, dass die
Islamisten sich durch ihren neoliberalen wirtschaftlichen Kurs und durch
ihre diktatorische Machtbestrebung nicht bedeutend vom alten Regime
unterscheiden. Deshalb steht Ägypten jetzt vor einer Phase der politischen
Instabilität, die die demokratische Entwicklung des Landes ernsthaft
gefährden könnte.
Die Muslimbrüder zeichnen sich durch eine beispiellose geistige
Verschlossenheit aus. Als eine islamisch-salafistische Bewegung beriefen
sie sich bei ihrer Gründung vor 80 Jahren auf die Theologen Ibn Hanbal
(780–855) und Ibn Taimya (1263–1328), die durch ihren religiösen
Dogmatismus und für ihre Feindseligkeit gegenüber den rationalistischen
Tendenzen im Islam berühmt wurden.
## Vorbilder aus der Vergangenheit
Immer suchen sie ihr politisches Modell in der Vergangenheit und fordern
die Durchsetzung der Scharia in Staat und Gesellschaft. Diese politische
Grundhaltung führte zur Konfrontation der Bewegung mit allen demokratischen
und weltlichen Kräften, die Ägypten modernisieren wollen.
Die Verfolgung der Muslimbrüder während der Ära von Präsident Nasser
(1953–1970) trieb die Bewegung in die Hände der saudischen Monarchie. In
dieser Phase konnten viele Anhänger der Bewegung einerseits große
Reichtümer anhäufen, andererseits erlebte die Bewegung durch ihr Bündnis
mit dem wahhabitischen Islam eine zusätzliche geistige Stagnation, die zur
Stärkung der radikalen und reaktionären Tendenzen innerhalb der Bewegung
beitrug.
Anschließend dienten die Muslimbrüder dem nachfolgenden Präsidenten Anwar
al-Sadat in den 1970er Jahren als Hauptverbündeter bei der Bekämpfung der
ägyptischen Linken, bei seiner Annäherung an den Westen und seiner
liberalen Wirtschaftspolitik. In dieser Zeit nahm der Einfluss der
heimkehrenden Islamisten überall im politischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Leben zu. Sie konnten sogar die Erklärung der islamischen
Scharia zur Quelle der ägyptischen Verfassung von 1971 durchsetzen. Das
Bündnis der Islamisten mit Sadat endete, nachdem er 1978 den
Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet hatte.
## Gemeinsam gegen die Linke
Nach der Ermordung Sadats durch eine radikale islamistische Gruppierung
übernahm Husni Mubarak die Macht – doch der Einfluss der muslimischen
Bruderschaft minimierte sich deshalb nicht. Unter Mubarak waren die
Muslimbrüder zwar politisch verboten und wurden sporadisch auch verfolgt,
dennoch konnten sie sich mit dem Regime arrangieren und ihre religiösen und
sozialen Aktivitäten fortsetzen. Demokratie hat sie dabei nie interessiert.
Sie blieben ihrer Losung treu, dass der Islam die Lösung sei.
Die Muslimbrüder bieten selbst im Ansatz kein Programm, um die
sozial-ökonomischen Probleme der 80 Millionen Ägypter zu lösen und die
Korruption zu bekämpfen. Sie bejahen das „wilde“ kapitalistische System in
Ägypten, heiligen das Privateigentum und versuchen es in Einklang mit der
islamischen Religion zu bringen.
So wird der im Islam verbotene Zins als Gewinn (Murabaha) in der
sogenannten islamischen Wirtschaft bezeichnet. Die Islamisten unterstützten
während der Ära Mubarak die Privatisierung des öffentlichen
Wirtschaftssektors und die Rücknahme der von Präsident Nasser in den 60er
Jahren durchgeführten Agrarreform. Letzteres führte zur Verelendung breiter
Teile der Bauern. Die Muslimbrüder treten für eine uneingeschränkte
Marktwirtschaft ein und lehnen jede Regulierung durch den Staat ab. Sie
stehen für die Öffnung des ägyptischen Marktes für ausländische Produkte,
was zur weiteren Erhöhung der Außenhandelsdefizite führt.
## Die Lust am schnellen Geld
Die Milliardäre unter den Muslimbrüdern haben ihren Reichtum zum größten
Teil in der Golfregion erworben. Sie investieren hauptsächlich im
Handelssektor, vor allem beim Warenimport aus dem Ausland, was ihnen
schnelle Profite garantiert und keine Arbeitsplätze schafft. Sie zeigen
kein Interesse an der Entwicklung von Industrie, Landwirtschaft und
Tourismus, der stets ein Dorn im Auge der konservativen Islamisten war.
Um das Haushaltsdefizit auszugleichen, das 26 Prozent beträgt, verfolgt die
von den Islamisten geführte Regierung die gleiche Politik wie ihre
Vorgängerin. Sie versucht, einen Kredit in Höhe von 4,8 Milliarden Dollar
vom Internationalen Währungsfonds zu bekommen. Dafür muss sie die
Energiepreise erhöhen und die öffentlichen Ausgaben reduzieren. Dass solche
Maßnahmen zur weiteren Verelendung der Ägypter führen, die unter der
Armutsgrenze leben – das sind rund 40 Prozent –, liegt auf der Hand. Auch
die Entwertung des ägyptischen Pfunds gegenüber dem Dollar trägt dazu bei,
die Lebenskosten zusätzlich zu erhöhen.
Die Muslimbrüder versuchen also gar nicht ernsthaft, das Elend zu
bekämpfen. Im Gegenteil ergreifen sie Partei für die reiche Oberschicht.
Islamisten verhindern de facto, dass die Forderung der Revolution nach mehr
Gerechtigkeit realisiert wird.
Sowohl auf politischer als auch auf wirtschaftlicher Ebene schaffen sie die
Grundlagen für die Normalisierung ihrer Beziehungen zu den USA und dem
Westen, indem sie den ägyptischen Markt weiterhin für westliche Produkte
und Kapital offen halten. Sie trachten danach, die alte Rolle des
Mubarak-Regimes zu übernehmen. Und der Westen scheint einem Bündnis mit den
Muslimbrüdern nicht abgeneigt. Dies wäre aber ein fataler Fehler, denn die
muslimische Bruderschaft eröffnet in ihrem jetzigen politischen Zustand
keinerlei Perspektive.
9 Jan 2013
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