# taz.de -- Kommentar Referendum in Ägypten: Ein schwacher Sieg | |
> Mit fast 70 Prozent Nichtwählern bei dem Referendum zur neuen Verfassung, | |
> wissen Ägyptens Islamisten vor allem eins: Ihr Mandat steht auf schwachen | |
> Füßen. | |
Für die Islamisten ist [1][das ägyptische Verfassungsreferendum] ein Sieg. | |
Die Opposition bezweifelt dagegen die Legitimität der neuen Verfassung, | |
weil sie nicht von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen würde. | |
Beide haben Recht. | |
Rein formal tritt die Verfassung in Kraft, wenn sich eine Mehrheit im | |
Referendum dafür entschieden hat. Immerhin haben sich 63,8 Prozent | |
derjenigen, die abgestimmt haben, nach dem offiziellen Endergebnis für den | |
Verfassungsentwurf ausgesprochen. Aber die Opposition kann mit der | |
Wahlbeteiligung von nur 32,5 Prozent argumentieren. Kann die gesetzliche | |
Grundlage eines Staates Bestand haben, wenn ihr nur etwas mehr als 20 | |
Prozent der Wahlberechtigten zugestimmt haben? | |
Der Inhalt der Verfassung weist nicht automatisch den Weg zum Gottesstaat. | |
Gesetze müssten dazu jetzt erst einmal umgeschrieben, viele der sehr vagen | |
Formulierungen interpretiert werden. Und da kommt es auf das | |
Kräfteverhältnis an. Den Parlamentswahlen, die jetzt innerhalb von 60 Tagen | |
stattfinden müssen, kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Dabei geht es für | |
beide Seiten vor allem darum, die fast 70 Prozent der Wahlberechtigten zu | |
mobilisieren, die bei dem Referendum nicht zur Urne gegangen sind. | |
Die Verfassungsdiskussion war für viele zu abstrakt. Aber mit Themen wie | |
soziale Gerechtigkeit, einem vernünftigen Bildungssystem und einer | |
angemessenen Krankenversorgung könnten sich in einem Land, in dem jeder | |
Vierte mit etwas mehr als einem Euro am Tag auskommen muss, Nichtwähler | |
durchaus mobilisieren lassen. Wollen die Liberalen die Islamisten an den | |
Wahlurnen schlagen, müssen sie diese Themen besetzen und die Muslimbrüder | |
für ihre Regierungspolitik verantwortlich machen. | |
Die Opposition gibt sich selbstbewusst. Muhammad al-Baradei, ehemaliger | |
Chef der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien und heute einer der | |
wichtigsten Oppositionsführer, spricht von dem Verfassungsreferendum | |
lediglich als verlorener Schlacht in einem noch andauernden Krieg. Diesen | |
könnten die Liberalen gewinnen, hofft er, wenn es der Opposition gelänge, | |
sich zu einigen. | |
Die Islamisten dagegen feiern ihren Sieg auffällig leise, fast so, als | |
wollten sie die andere Seite nicht unnötig provozieren. Sie rufen erneut | |
zum Dialog, etwa, wenn es jetzt darum geht, für die Parlamentswahlen ein | |
neues Wahlgesetz zu schaffen. Der Chef der Muslimbrüder, Muhammad Badie, | |
gibt sich geradezu staatsmännisch, indem er alle Ägypter, ob Männer, | |
Frauen, Muslime oder Christen auffordert, jetzt zusammenzuarbeiten. | |
Premier Hischam Qandil spricht davon, dass es in der neuen Verfassung | |
angeblich „keine Verlierer“ gäbe. Er ruft dazu auf, zur Tagesordnung | |
überzugehen und daran zu arbeiten, dass die Wirtschaft nicht völlig | |
abstürzt. Viele Ägypter hatten sich während des Referendums erst einmal | |
sicherheitshalber mit harten US-Dollars eingedeckt, in Erwartung eines | |
Sturzes des ägyptischen Pfundes. | |
Die Muslimbrüder wissen, dass sie den Präsidenten stellen, ihre Verfassung | |
durchgesetzt haben und in der zweiten Kammer, dem Schura-Rat, der bis zur | |
Wahl eines neuen Unterhauses die Gesetze schreibt, die Mehrheit stellen. | |
Was zunächst wie eine gute Nachricht für sie aussieht, könnte sich schnell | |
ins Gegenteil verkehren. Denn für die Ägypter tragen die Islamisten jetzt | |
die volle politische Verantwortung für das Land. Eine politische | |
Verantwortung, die ihnen bisher nicht gut bekommen ist. Zwar haben sie bei | |
jeder Wahl in diesem Jahr den Sieg davongetragen, aber die Sieges-Marge | |
wird mit jedem Mal kleiner. Und nun steht dem politisch zweigeteilten Land | |
ein harter Wahlkampf zwischen Islamisten und Liberalen bevor. | |
Viele der Ägypter, die für die Verfassung gestimmt hatten, taten das nicht | |
in Unterstützung der Islamisten, sondern mit der Idee, dass das Land damit | |
endlich stabil wird und sie wieder Arbeit und ein Auskommen finden. Aber | |
diese Hoffnung wird schneller ad acta gelegt werden, als man die 236 | |
Verfassungsartikel durchlesen kann. | |
Mit fast 70 Prozent Nichtwählern und einem guten Teil von | |
Verfassungsbefürwortern, die bei der Abstimmung auf Stabilität und | |
Verbesserung ihrer Lebensumstände gesetzt haben, wissen Ägyptens Islamisten | |
vor allem eines: Ihr Mandat steht auf ziemlich schwachen Füßen. | |
26 Dec 2012 | |
## LINKS | |
[1] /Referendum-in-Aegypten/!108055/ | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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Ägypten | |
Verfassungsreferendum | |
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