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# taz.de -- Weltsozialforum in Tunis: Religion trifft Politik
> Gegen Neoliberalismus. Für Salafismus. Beim Weltsozialforum mischen sich
> die unterschiedlichsten politischen Gruppen.
Bild: Zeltstadt für die internationalen Gäste an der Universität
TUNIS taz | Pascal hat eine Idee. Der Franzose verteilt Pässe auf Avenue
Habib Bourghiba, der Prachtstraße von Tunis. „Universal-Pass“ steht darauf,
den eigenen Namen dürfen die Passanten selbst eintragen. Eigentlich sind es
nur blaue Pappkärtchen. Aber Pascal geht es um die Idee. Seine Idee. Er
will, dass die Vereinten Nationen eine weltweit gültige Staatsbürgerschaft
einführen.
„Jedes Land, das dabei mitmacht, muss jedem Menschen die Einreise und
Niederlassung erlauben“, sagt der Franzose. Zwei Länder hat er schon
zusammen: Uruguay und Ecuador, im Moment verhandelt er mit Bosnien. Warum
nicht mit Frankreich? „Mit denen haben wir geredet. Aber sie haben uns
nicht zugehört.“ Das entmutigt ihn nicht: „Die Regierung in Frankreich hö…
gerade sowieso niemandem zu.“
Pascal ist wie tausende andere auch eigens nach Tunis gereist, um am elften
Weltsozialforum teil zu nehmen. Das Forum ist ein Jahrmarkt der
Protestbewegungen. Die einstige Kern-Agenda, der Kampf gegen eine
neoliberale Globalisierung, in der alles zur Ware gemacht wird, ist längst
verschwommen.
Das Motto des diesjährigen Treffens, „Würde“, ist anschlussfähig für
jedermann. Insgesamt sollen 30.000 Menschen gekommen sein, 4.000
Initiativen wie die von Pascal werben hier für ihre Vision einer besseren
Welt. Doch während die meisten Themen friedlich nebeneinander stehen,
sorgen einige für tiefe Risse.
## „Niqab bis zum Ende“
Auf dem Campus der Universität steht Aliya. Die Informatik-Studentin trägt
eine pinkfarbene Jeans und eine verspiegelte Sonnenbrille. Sie ist eine der
vielen Freiwilligen, die den Forumsteilnehmern aus aller Welt helfen, sich
zwischen all den Pavillons und Seminargebäuden zurecht zu finden. Das
Organisationskommittee sei dort drüben, sie deutet auf ein
Verwaltungsgebäude. „Du musst aber aufpassen“, sagt sie, „da gibt es vie…
Salafisten.“ Sie und ihre Freunde lachen, aber wirklich lustig, das ist zu
hören, finden sie es nicht.
Tatsächlich liegen die Büros der Organisatoren im ersten Stock, des
Gebäudes. Die gesamte Fläche vor dem Treppenaufgang hat eine Gruppe
religiöser Studenten in Beschlag genommen: Junge Männer mit Lederjacken und
Bärten, junge Frauen, voll verschleiert mit Niqab. „Fass meine Freiheit
nicht an“, steht auf einem Transparent, dass sie aufgehängt haben und
„Niqab bis zum Ende.“
Seit 29 Tagen protestieren sie hier, die Jungs bleiben rund um die Uhr, die
Mädchen kommen tagsüber. Sie alle haben die weißen Teilnehmerkarten des
Forums um den Hals. Eine junge Frau im grauen Hosenanzug ruft „Geht doch
nach Saudi-Arabien“, was von den Bart-Jungs mit wütendem Geschrei quittiert
wird. „Die Universität will nicht, dass wir verschleiert studieren“ sagt
Emina. Sie trägt einen Niqab, ist 19 und studiert im zweiten Jahr
Elektrotechnik. Noch. Sie hofft, das Forum werde ihrem Anliegen mehr
Aufmerksamkeit verschaffen. „Sie reden doch die ganze Zeit von der
Revolution der Würde. Aber unsere Würde wollen sie uns stehlen.“
## Neugier und Entsetzen
Am Vortag, auf der WSF-Eröffnungsdemo, hatten sich Islamisten unter die
über 10.000 Teilnehmer gemischt. Sie dichteten den Slogan der Revolution
um: Statt „Arbeit, Freiheit, Umverteilung“ riefen sie „Arbeit, Freiheit,
Scharia“, auch sie hatten die WSF-Teilnehmerkärtchen um. Die übrigen, meist
linken Demonstranten sahen sie mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen
an, doch niemand stellte offen ihr Recht in Frage, als Teil der
Globalisierungskritiker mitzulaufen. Die Spaltung zwischen Religiösen und
Säkularen, die mitten durch das postrevolutionäre Tunesien geht, sie geht
auch durch das Forum.
In einem anderen Seminargebäude ist das Medienzentrum untergebracht. Die
Korrespondenten der „Flamme Afrikas“, ein pan-afrikanischer
Alternativsender, nehmen einen ganzen Raum ein. An einem Laptop sitzt Thiam
Mamadou, ein junger Radiojournalist aus Nouakchott in Mauretanien und
schreibt an einem Feature über die Frauenversammlung am Morgen. „Die Frauen
konnten dort ihre Forderungen gegenüber den Männern artikulieren, das ist
eine gute Sache“, sagt er. Ebenso, wie das ganze Forum: „Es ist ein gutes
Angebot an die Marginalisierten, die Unterdrückten“, sagt Mamadou. Sie
könnten sich hier austauschen über Themen wie Landraub oder eben
Frauenrechte.
Der Haken: „Man braucht eine Partnerorganisation aus Europa, sonst kann man
nicht herkommen.“ Mamadous Reise hat eine senegalesische Stiftung bezahlt,
ebenso wie die der anderen „Flamme d‘Afrique“-Redakteure. Doch soviel Gl�…
hatten nur wenige. Aus Mauretanien seien außer ihm nur sechs Aktivisten da.
„Du erkennst sie sofort. Sie tragen die Leibchen der Organisation, die ihre
Reise bezahlt hat.“
## Ein Armutszeugnis
Im Vorfeld des Forums hatte es geheißen, es werde Angebote für Teilnehmer
mit wenig Geld geben. Essen und Schlafplätze, damit subsaharische
Aktivisten nicht auf solche Patenschaften angewiesen sind. Im Büro der
Organisatoren sitzt die Sprecherin Amal Jerbi, ihr Telefon klingelt
ununterbrochen, von solchen Hilfen weiß sie nichts. Nach einigen
Telefonaten ist sie klüger: „Es gibt nichts“, sagt sie. Keine
Essensausgabe, keine Schlafplätze. Sie zuckt mit den Schultern, die
Telefone klingeln schon wieder. Und so sind weit überwiegend Menschen auf
dem Forum, die Politik nicht für sich selbst, sondern für andere machen.
Das El Hana ist eines der Fünf-Sterne Hotels an der Avenue Habib Bourghiba.
Am Abend ist die Lobby voll von WSF-Teilnehmern.
Hier sitzt Jaques Lammarta, ein Korse, mit feinem grauen Wollpulli und
schwarzem Halstuch. 1994 hat er eine NGO gegründet, „60
Solidaritätsprojekte haben wir seitdem realisiert“, sagt er: Brunnen in
Burkina Faso, Moskitonetze für Westafrikas Malariagürtel. „Wir tragen die
Verantwortung für die Kolonisation Afrikas“, sagt er „und heute beuten wir
die Länder immer noch aus.“ Europa zwinge sie, ihre öffentlichen Dienste zu
privatisieren und ihre Märkte zu öffnen. „So bleiben sie arm.“ Dass es
Menschen wie ihn braucht, sei ein Armutszeugnis für Institutionen wie
Weltbank oder WTO, meint der Korse. „Die verwalten einen unglaublichen
Reichtum. Sie müssten die Schulden erlassen und all diese Projekte
anschieben, die wir machen. Aber sie tun das Gegenteil. Um das zu
denunzieren, sind wir hier.“
Deshalb ist auch der „Flamme d‘Afrique“-Reporter Thiam Mamadou gekommen. …
ist ein wenig enttäuscht, dass das subsaharische Afrika etwas zu kurz
kommt. „Hier reden alle über Palästina“, sagt er. Fände das Forum in sei…
Land statt, ginge es sicher auch eher um lokale Themen. „Aber manchmal
denke ich, die Menschen hier vergessen, was in Afrika los ist. Mali, die
Zentralafrikanische Republik, der Landraub – es kommt mit manchmal vor, als
interessiere das alles hier keinen.“ Dennoch ist er zufrieden, dass das
Forum in Tunesien zu Gast ist. „Sonst war es immer in Brasilien. Und kommt
man ja nun wirklich nicht hin.“
27 Mar 2013
## AUTOREN
Christian Jakob
Christian Jakob
## TAGS
Tunis
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