# taz.de -- Das Schicksal von „Mondscheinkindern“: Johannas Leben ohne Licht | |
> Jeder Sonnenstrahl bedroht das Leben einer Dreijährigen. Ihre Eltern | |
> wollen, dass die Krankenkasse die Kosten für den UV-Schutz übernimmt. Die | |
> sträubt sich. | |
Bild: Wenn UV-Licht lebensbedrohlich wird, wird jeder Spaziergang zur Gefahr. | |
Es ist der erste Frühling mit der Diagnose. Michaela und Ansgar Jux haben | |
getan, was sie konnten: Alle Fenster in ihrem Haus in Steinfurt haben sie | |
mit UV-sicherer Folie abgeklebt, und die in Johannas Kindergarten ein paar | |
Straßen weiter auch. Sie haben 36 Energiesparbirnen gegen nicht strahlende | |
LED-Leuchten ausgetauscht. Sie haben bei Opel angefragt, wie viel Prozent | |
des schädlichen Lichts ihre Windschutzscheibe abhält. | |
Sie haben Unterwäsche mit UV-Schutz, Größe 116/122, beim Spezialversand | |
bestellt, dazu Handschuhe, Nackenschutz, T-Shirts. In den Schränken lagert | |
Sonnencreme, Lichtschutzfaktor 50+. Über die Überdachung ihres Gartens | |
denken sie noch nach. Es ist auch eine Geldfrage. Die Krankenkasse weigert | |
sich, viele dieser Kosten zu übernehmen. Weswegen das Ehepaar Jux im April | |
die AOK Nordost vor dem Sozialgericht Münster verklagt hat. | |
Man kann sagen, dass die Jux gewappnet sind. So gut wie Eltern gewappnet | |
sein können, wenn jeder Lichteinfall, jeder Sonnenstrahl plötzlich zum | |
Feind wird: weil er das Leben ihres Kindes bedroht. Johannas Leben, nicht | |
einmal vier Jahre alt. | |
Im Wohnzimmer schaltet Michaela Jux das UV-Strahlenmessgerät ein, eine | |
Selbsthilfegruppe hat es geschenkt: null Komma null. Sie guckt zufrieden: | |
„Wir haben Respekt, aber keine Angst mehr vor dieser Krankheit.“ | |
## Genetischer Defekt | |
Diese Krankheit. Im Juli 2009 wird Johanna geboren. Sie ist Michaela und | |
Ansgar Jux’ erste Tochter, und nichts an diesem Baby lässt die Eltern oder | |
die Ärzte zunächst Verdacht schöpfen, dass Johanna an einem unheilbaren | |
genetischen Defekt leiden könnte. Einem Defekt, der, wie sie heute wissen, | |
den körpereigenen Mechanismus aushebelt, durch Sonnenlicht verursachte | |
kleinere DNA-Schäden selbst zu reparieren. | |
Es werden drei Jahre vergehen, bis Ärzte die Zeichen zu deuten vermögen – | |
die Bindehautentzündungen, ihre Lichtempfindlichkeit, die Sommersprossen, | |
die trockene Haut, die Verhornungen. | |
Ein Bluttest bringt Gewissheit: Sobald UV-Strahlen, selbst in geringer | |
Dosis, auf Johannas Haut treffen, richten sie Schaden an: Die Haut | |
entzündet sich. Bildet warzenähnliche Formen. Später Hautkrebs. Nicht | |
eventuell. Sondern zwangsläufig. Xeroderma pigmentosum, kurz XP, wie Ärzte | |
die Krankheit nennen, das ist keine Allergie, mit der zu leben es sich | |
einrichten ließe. XP, das ist tödlich. | |
Die Frage ist, wie viel Lebenszeit sich durch Vorbeugung – UV-Kleidung, | |
Sonnencreme – gewinnen lässt. Wie viele Tumoren verhindert oder in der | |
Entstehung verzögert werden können. Am Nasenrücken und am rechten Unterlid | |
musste Johanna schon operiert werden, trotz aller Vorsicht. Der | |
Krebsverdacht hat sich nicht bestätigt, aber eine Entwarnung ist das nicht. | |
Ansgar Jux sagt: „Es ist wie mit Radioaktivität. Es gibt keinen | |
ungefährlichen Wert.“ | |
## Nur 80 Fälle | |
Und erst recht gibt es keine Heilung. Bundesweit leiden etwa 80 Menschen an | |
dieser sehr seltenen Erkrankung. Weil sie sich gefahrlos nur nachts draußen | |
aufhalten können und manche nicht einmal die Volljährigkeit erreichen, | |
werden die Patienten ebenso irreführend wie beschönigend auch | |
„Mondscheinkinder“ genannt. | |
„Wir haben kein Mittel gegen die Krankheit“, sagt Mark Berneburg von der | |
Universität Tübingen. Der Professor für Dermatologie ist einer der wenigen | |
XP-Experten Deutschlands. Berneburg kennt viele Erkrankte. Einige operiert | |
er mehrmals jährlich. Andere wenden sich an ihn: mit der Bitte um | |
Unterstützung – im Streit mit den Krankenkassen, die sich weigern, den | |
UV-Schutz zu bezahlen. „Man hat den Eindruck, als würden die | |
Verantwortlichen bei den Kassen diese Krankheit nicht kennen“, sagt | |
Berneburg. | |
Die Ablehnungsbescheide lauten ähnlich, egal ob sie von der Techniker | |
Krankenkasse, der Barmer GEK oder der AOK kommen. Fünf Berichte von | |
XP-Geschädigten liegen der taz vor; bei keinem von ihnen wurde der | |
UV-Schutz als versicherungsrechtlicher Anspruch anerkannt, im besten Fall | |
gibt es Erstattungen aus Kulanz. | |
An Michaela und Ansgar Jux schreibt die AOK Nordost am 28. September 2012: | |
„Ihren Antrag auf Kostenübernahme von Anthelios Xl 50+ haben wir erhalten. | |
[…] Bei dem verordneten Produkt handelt es sich jedoch nicht um ein | |
zugelassenes Arzneimittel, sondern um ein spezielles Produkt zur Haut- und | |
Körperpflege, welches keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung | |
darstellt.“ | |
XP – bloß ein kosmetisches Problem? | |
Die Jux legen Widerspruch ein. Die Kassen mögen gefangen sein in der | |
starren Logik ihres Leistungskatalogs. Für Johanna aber geht es um das | |
Überleben; es gibt für sie keine alternative medizinische Behandlung. Der | |
Grad ihrer Behinderung liegt, das schreibt der Landrat des Kreises | |
Steinfurt, bei 30 Prozent. | |
Martin Görtz, Johannas Hautarzt aus Steinfurt, appelliert am 10. Oktober | |
2012 an den Medizinischen Dienst der Krankenkassen: „Ein systematischer | |
Lichtschutz […] ist die absolut notwendige, lebenslänglich durchzuführende, | |
wichtigste prophylaktische Maßnahme zur Minimierung des durch die | |
Erkrankung massiv erhöhten Risikos der Entwicklung von Hauttumoren.“ | |
Nun bewilligt die AOK „im Rahmen einer Kulanz“ einen „Zuschuss“ zum | |
Sonnenschutz – bis zu 300 Euro im Jahr. Befristet ist diese Entscheidung | |
bis Ende 2013. So als bestehe die Möglichkeit, dass XP, eine nach | |
wissenschaftlicher Erkenntnis unheilbare Krankheit, zum Stichtag 31. | |
Dezember plötzlich verschwunden sein könnte. | |
Almosen statt sozialrechtlicher Ansprüche? Ansgar Jux ist Sozialarbeiter, | |
Michaela Jux Psychologin. Sie wollen keine Kulanz. Sie wollen, dass Johanna | |
das bekommt, was sie braucht und was ihr zusteht. Sie schreiben: „Wir | |
erwarten eine unbefristete Kostenübernahme der Sonnencreme in der Höhe der | |
tatsächlich entstehenden Kosten.“ Derzeit sind das 780 Euro pro Jahr. | |
## Kräftezehrender Alltag | |
Viele Eltern geben nach solchen Erfahrungen auf. Das Leben mit einem Kind, | |
für das jeder Aufenthalt im Tageslicht lebensgefährlich ist, es ist | |
anstrengend genug. Sich mehrmals täglich am ganzen Körper eincremen müssen, | |
der obligatorische Gesichtsschutz – spätestens in der Pubertät rebellieren | |
viele Patienten. Das Leben mit XP, es macht einsam, es sprengt Familien, | |
Freundeskreise. | |
Die Jux lassen sich nicht abspeisen. Sie haben doch die Politik auf ihrer | |
Seite. Und das Recht. Denken sie. Da ist dieses Schreiben der damaligen | |
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) zu XP vom Mai 2009, verfasst im | |
Zusammenhang mit einem anderen Kassenstreit: „Eine Krankenkasse darf jedoch | |
bei schwerwiegender Erkrankung die Versorgung mit einem benötigten | |
kosmetischen Mittel […] nicht allein aus formalen Gründen pauschal | |
ablehnen.“ | |
Und da ist das sogenannte Nikolausurteil des Bundesverfassungsgerichts vom | |
6. Dezember 2005, in dem es heißt: „Es ist mit den Grundrechten […] nicht | |
vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen | |
lebensbedrohliche […] Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem | |
Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der | |
Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode | |
auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine | |
spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.“ | |
Sätze wie Sprengstoff. Der Spitzenverband der Krankenversicherung reagiert: | |
Mit Rundschreiben vom 8. Juli 2009 empfiehlt er, „bei der | |
Genehmigungspraxis bzgl. der Versorgung von Mondscheinkindern die | |
Ausführungen des BMG und den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts […] zu | |
berücksichtigen“. Allein: Weisungsbefugt gegenüber den einzelnen Kassen ist | |
der Verband nicht. | |
## AOK kontert | |
Die AOK Nordost etwa argumentiert auf Anfrage der taz, es würden ja manche | |
Kosten teilweise übernommen. Es gehe um Verhältnismäßigkeit; unbefristete | |
Kostenübernahmen gebe es generell nicht. | |
Februar 2013. In Schwerin verkündet der Widerspruchsausschuss der AOK | |
Nordost zur Causa Johanna Jux: „Leistungen, die für die Erzielung des | |
Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, kann der | |
Versicherte nicht beanspruchen.“ | |
780 Euro für Sonnencreme, zwei lange Unterhosen Größe 116/122 à 32,95 Euro, | |
zwei lange Unterhemden à 35,95 Euro, zwei Paar Schutzhandschuhe Größe 4,5 à | |
39,95 Euro, ein UV-sicherer Badeanzug für 89,95 Euro. Nicht notwendig? | |
Unwirtschaftlich? 28,3 Milliarden Euro Reserven hatten die gesetzlichen | |
Kassen 2012. | |
Als Faustformel gilt: Wer keine UV-Prophylaxe betreibt, entwickelt zehnmal | |
so schnell Hautkrebs wie UV-geschützte XP-Patienten. Wer Hautkrebs hat, | |
wird operiert. Egal wie oft, egal wie aufwendig. Hautkrebs und seine | |
Vorstufen sind laut Leistungskatalog abrechenbar. Die Jux schreiben der | |
AOK: „Es ist zumindest nicht ersichtlich, dass es wirtschaftlicher sein | |
soll, die beschleunigte Entstehung von Basalzellkarzinomen, ggf. auch | |
Melanomen in Kauf zu nehmen.“ | |
## Streit um Glühbirnen | |
Der AOK geht es um Grundsätzliches. Etwa: Wie viele Glühbirnen sind einem | |
durchschnittlichen Haushalt angemessen? Seitenlang ist die Korrespondenz zu | |
diesem Thema. Die Jux mussten 36 Lampen durch UV-sichere Leuchtmittel | |
ersetzen, das Stück 15 Euro. Die AOK erwidert: „Es war Ihre Entscheidung, | |
welche ’Leuchtmittel‘ zum Einsatz kamen.“ Aufgrund der „besonderen | |
Situation durch die Erkrankung“ sei die Kasse aber gewillt, einmalig 20 | |
Birnen zu bezahlen. | |
Als die Jux protestieren, wirft die AOK ihnen Maßlosigkeit vor: „Die […] | |
als erstattungsfähig ermittelten 20 UV-sicheren Glühbirnen entsprechen | |
durchschnittlichen Wohnverhältnissen.“ Sodann schilt sie: „In einem | |
gemeinsam bewohnten Haus ist es für Sie nicht vorstellbar, dass Ihre | |
Tochter einige Räume nicht betreten darf.“ | |
Verzweifelt über derlei Bescheide wandte sich eine Mitstreiterin aus der | |
XP-Selbsthilfegruppe kürzlich an das Bundesgesundheitsministerium – mit der | |
Bitte, den Jux und den anderen Familien zu helfen. Der FDP-Minister | |
antwortete persönlich. Die Kassen, schrieb Daniel Bahr, müssten eben jeden | |
Einzelfall prüfen: „Mir liegen bisher keine Hinweise dahin gehend vor, dass | |
diese Prüfung nicht mit der gebotenen Sorgfalt geschieht.“ | |
8 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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