# taz.de -- Schauspielerin mit Downsyndrom: Ein schlummernder Vulkan | |
> Julia Häusermann, eine Darstellerin mit Downsyndrom, wird zum Abschluss | |
> des Berliner Theatertreffens mit dem Alfred-Kerr-Preis ausgezeichnet. Ein | |
> richtiges Signal. | |
Bild: Ausgezeichnet: Julia Häusermann, Jahrgang 1992 | |
Jedes Jahr sitzt beim Theatertreffen in Berlin ein Schauspieler als Juror | |
im Publikum. Am letzten Tag kann er einen Preis verleihen, den | |
Alfred-Kerr-Darstellerpreis für „die herausragende Leistung eines | |
Nachwuchsspielers“. Das ist beim Theatertreffen oft gar nicht so einfach, | |
weil in den tollen Ensembles aus München, Köln oder Hamburg nicht eben viel | |
Nachwuchs mitspielt. | |
Letztes Jahr verlieh so die Jurorin Nina Hoss den Preis an Fabian Hinrichs, | |
der seinen Ruf als großartiger Schauspieler und Soloperformer da aber schon | |
ein paar Jahre lang genießen konnte. Dieses Jahr ist Thomas Thieme der | |
Juror, und er vergab den Kerr-Preis am Montag an Julia Häusermann. Das ist | |
echter Nachwuchs. | |
Denn Julia Häusermann, 1992 geboren, hatte ihre zweijährige Ausbildung beim | |
Theater Hora in Zürich noch gar nicht beendet, als Jérôme Bel, Choreograf | |
und Regisseur aus Frankreich, mit zehn Schauspielern seines Theaters das | |
Stück „Disabled Theatre“ entwickelte. Sie ist unter jenen zehn, die sich in | |
den ersten Szenen mit Namen, Beruf und ihrer Behinderung vorstellen, die | |
kleinste und trotzigste. | |
Man weiß als Zuschauer nicht so recht, was von diesem rothaarigen Küken zu | |
erwarten ist, das den Blick kaum bis zum Publikum heben kann. Bis es zu | |
Bels Bitte kommt, jeder der zehn möge jetzt ein selbst gemachtes Tanzsolo | |
zu selbst gewählter Musik zeigen. Da endlich darf der Vulkan, der in Julia | |
Häusermann schlummert, zum Ausbruch kommen. Michael Jackson „They don’t | |
care about us“ ist ihre Musik, markig greift sie sich in den Schritt, | |
stampft, wirbelt und zeigt eine unerwartete Stärke und ein | |
Selbstbewusstsein – der kann keiner blöd kommen. | |
## Ganz die kleine Diva | |
Wenn sie danach in die Stuhlreihe zu ihren Kollegen zurückkehrt, ist sie | |
ganz die kleine Diva. Anlehnungsbedürftig und liebeshungrig lässt sie sich | |
versorgen und die Füße massieren. Das Theater Hora aus Zürich arbeitet mit | |
Schauspielern mit Behinderung. Häusermann hat das Downsyndrom oder Trisomie | |
21. Das Angestarrtwerden auf der Bühne ist für sie eine Verlängerung der | |
Erfahrung, im Alltag begafft – oder eben aus Diskretion übersehen zu | |
werden. | |
Andere aus der Gruppe sind durch eine Lernbehinderung eingeschränkt. In | |
Bels Stück erfährt man das genau – genauer als in anderen Kunstprojekten | |
mit behinderten Darstellern, weil er es seine Schauspieler selbst erzählen | |
lässt. Das hat zu Diskussionen darüber geführt, wie voyeuristisch „Disabled | |
Theatre“ ist und wo der Zuschauer sich selbst in seinen Reaktionen als | |
„disabled“ ertappt. | |
Es hat auch zu vielen Einladungen geführt: zum Avignon-Festival, auf die | |
Documenta Kassel, ins Hebbeltheater in Berlin und jetzt zum Theatertreffen. | |
Jérôme Bel arbeitet seit Langem an den Rahmenbedingungen der Repräsentation | |
im Theater und schraubt an den Verabredungen, was real und was fiktiv ist. | |
Wenn er die Darsteller vom Hora eben nichts anderes als sich selbst | |
darstellen lässt, ist dies auch ein doppeltes Spiel: denn dass sie nun | |
einfach authentisch sie selbst sind, ist auch wieder eine Fiktion. | |
Man lasse sich von der luziden Konstruktion der Simplizität bloß nicht | |
täuschen; naiv ist das nicht, wie hier gespielt wird. Für die Theaterwelt | |
ist die Verleihung des Kerr-Preises an Häusermann auch ein Signal: Es tut | |
gut, die eingeübten Routinen zu verlassen und die Geschlossenheit der | |
eigenen Welt von außen zu betrachten. Die Kunst gewinnt bei solcher | |
Reflexion eigentlich fast immer. | |
## Der Star des Hauses | |
Im Jahr 2011 war der Kerr-Preis an Lina Beckmann gegangen vom Ensemble | |
Köln. Sie ist inzwischen zu einem Star des Hauses geworden, spielte den | |
„Idioten“ in einer Dramatisierung nach Dostojewski, und sie war beim | |
Theatertreffen wieder dabei als Mutter John aus Hauptmanns „Die Ratten“, | |
inszeniert von Karin Henkel. Mutter John hat sich ein Kind geklaut, | |
abgeschwatzt schon mit mehr als sanfter Gewalt von einer zum Selbstmord | |
entschlossenen jungen Polin. Aber die leibliche Mutter bringt sich nicht | |
um, kehrt zurück und forscht nach dem Kind, sogar mit amtlicher Hilfe. | |
Das Kalkül von Mutter John geht nicht auf, in Panik verstrickt sie sich in | |
Lügen und hetzt Pauline Piperkarcka ihren kleinkriminellen Bruder auf den | |
Hals. Wie sie erstarrt, wenn sie sich ertappt fühlt, wie sie droht, wenn | |
sie in Angst gerät – „Ich mach dir kalt, dann biste ’ne Leiche“ –, s… | |
Lina Beckmann mit groben Strichen und durchsichtig zugleich. Sie wirkt dann | |
wie ein großes Ausrufezeichen auf der Bühne, das sich unsichtbar machen | |
will. | |
Jette Johns Handlungen, ihre impulsiven Entscheidungen, die sich bald gegen | |
sie selbst kehren, sind schneller als ihr Verstand. An ihrem Erschrecken | |
über die eigene Dummheit lässt Beckmann einen heftig mitleiden. Für mich | |
war das innerhalb von drei Jahren die dritte Inszenierung der „Ratten“, und | |
jedes Mal denke ich wieder, was für ein irres Stück, was für eine | |
Superinszenierung. Das liegt auch daran, dass Hauptmann einen Diskurs über | |
das Theater und den Streit Naturalismus gegen Shakespeare eingebaut hat. | |
Sein Naturalismus, für den unter anderem der Berliner Dialekt der Figuren | |
steht, ist inzwischen selbst zu einem sehr expressionistischen und | |
artifiziellen Gebilde geworden, die Suche nach dem Wahren und Wirklichen | |
auf der Bühne hat sich ein paar Epochen weitergedreht. All jenes nehmen die | |
neueren Inszenierungen mit hinein in die Szenen. | |
20 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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