# taz.de -- Schauspieler mit Behinderung: Pankows Litaneien | |
> Erst war der Unfall. Dann das Koma. Nachdem Peter Pankow aufwachte und | |
> zum zweiten Mal sprechen lernte, hörte er nicht mehr auf. | |
Bild: Peter Pankow auf der Bühne: raumfüllend, ausgelassen, charismatisch. | |
sonntaz: Herr Pankow, wann haben Sie zum zweiten Mal sprechen gelernt? | |
Peter Pankow: Mit vier kam ich unters Auto, und vier Brüder hab ich. Mutter | |
hat viel gearbeitet, Köchin, dann auch in der Fabrik. Der Vater war | |
Bauarbeiter. Wir waren arm. Sehr arm heißt, man verdient wenig Geld. | |
Also der Unfall? | |
Der Autounfall war rasch. Das ist schon lange her. Ich war ein halbes Jahr | |
im Koma. Dann noch mal von vorne reden lernen, Pampers, alles neu. | |
Behindert sein heißt, dass man eingeschränkt ist. Meine Brüder haben mich | |
beschützt, weil da waren ja viele Halbstarke. | |
Pankow ist Schauspieler – dunkle Haare, graue Bartstoppeln – ein schwerer | |
Mann, der seine Körperhülle mit Schweiß, der die Brille beschlägt, und | |
weichen Bewegungen abfedert. Beim Sprechen drückt er die Augen zusammen und | |
lehnt sich zurück, um Platz für den Atem zu holen. | |
Und dann, als Sie wieder alles konnten? | |
Ich war Mutters Liebling. Ich habe die immer abgeküsst. Sie hat mich | |
gehätschelt und getätschelt. Die hat sehr gut gekocht. Wir haben gekocht | |
für neun Leute: Tante Berta, Tante Anneliese, Vater, Mutter, fünf Kinder. | |
Mutter hat Köchin in der Schweiz gelernt. Sie ist auf der deutschen Seite | |
von Polen aufgewachsen. Danzig oder so. Sie ist so 72 geworden. Ja, die hat | |
viel geraucht. Sie war gastfreundlich, die hat sich um uns alle gekümmert. | |
Und die ganze Wäsche. Mein Bruder Bernd ist weggezogen mit der Freundin. | |
Dann hat er sich getrennt und ist wieder zur Mutter. Ich war auch mal | |
verlobt. Aber wenn es um Geld geht, gibt es Streit. Ich wollte nie arm | |
sein, von Hartz IV leben. Es gibt die böse Gegenständlichkeit von Hartz IV: | |
Man sitzt rum, spricht nur und hat am Ende nichts zu essen. Ich wollte | |
Hollywood-Schauspieler werden. Ich wollte Würde und nicht Hartz IV. | |
Pankow sitzt in der Kostümbildnerei des Theaters Thikwa in einem Berliner | |
Hinterhof in Kreuzberg. In den Regalen hinter dem aufgeräumten Arbeitstisch | |
stehen durchsichtige Plastikkisten mit nach Farben sortierten Stoffen. Von | |
hell nach dunkel, von Gelb, über Rot und Grün nach Blau. „Das Gelbe ist die | |
Energie“, sagt er. | |
Ich bin Schauspieler, Puppenspieler, Künstler, Regisseur. Und ein guter | |
Tänzer bin ich auch. Aber ich bin behindert und arbeite in einer Werkstatt. | |
Manche hier werden nach Tarif bezahlt, ich nicht. Man sagt: Pankow, du | |
meckerst nur rum. Pankow, du bist einsam, hast keine Frau, Pankow, du hast | |
Angst, dass man dich überfällt. Die anderen haben eine Frau. Ich sammle | |
auch Flaschen, wenn ich welche finde. | |
Pankow spielt im Theater Thikwa – ein Profi-Ensemble in Berlin ist es und | |
gleichzeitig eine Behinderteneinrichtung. Die Arbeitsaufgabe: Theater | |
spielen. Alle Schauspieler und Schauspielerinnen sind geistig oder geistig | |
und körperlich gehandicapt. Pankow ist der Charismatiker unter ihnen, die | |
Leitfigur, die, auf die sich alle verlassen können. Wenn er auftritt – in | |
schwarzer Hose, schwarzem Jackett, weißem Hemd –, strömt ihm die | |
Aufmerksamkeit zu. Er muss nichts tun und füllt den Raum. Er steht auf der | |
Bühne, ist da, fängt mit einem kurzen Satz an. | |
Vielleicht mit: „Das ist eine Puppe.“ Und von da geht es weiter: „Eine | |
Puppe kann man alt machen. Aber der Mensch wird jedes Jahr älter. Er muss | |
irgendwann sterben. Dann versagt sein Herz. Aber bei der Puppe kann man ein | |
Herz schnitzen.“ Was er jetzt sagt, jetzt, in diesem Atelier der | |
Bühnenbildnerin, das könnte auch in einem Stück gesagt sein. Er sagt, was | |
aus ihm herauskommt. Worte, Sätze, Gedankenfetzen, Assoziationsketten – | |
geleitet vom Klang. | |
Erfinder bin ich auch noch. Ich erfinde Sprache und denke darüber nach, ob | |
meine Sprache behindert ist. | |
Wollten Sie Schauspieler werden? | |
Ich bin schon dreißig Jahre Künstler. Ich war im Schultheater, da haben wir | |
eine Form bekommen, weil die Leute gesagt haben, ich habe einen Redefluss. | |
Fußball habe ich auch gespielt. Fußball und Theater. Die haben gesagt, ich | |
habe Talent und Form. Aber sie müssen mich schleifen. | |
Und? | |
Ja, ich bin ein Diamant. Richtig sprechen, sich richtig äußern, ich kann | |
reden ohne Punkt und Komma, aber hier hat man einen Schliff mit Pausen | |
gemacht, und wie es ist, behindert zu sein, anders als die anderen zu sein. | |
Wenn Peter Pankow tanzt, wird ihm sein massiger Körper zum Verstärker. Er | |
breitet die Arme aus, dreht sich, ist Propeller, Hubschrauber, Verführer – | |
es braucht nicht viel. Die Zuschauer folgen seinen Bewegungen körperlich, | |
wenngleich nur ganz leicht. | |
Sind Sie anders? | |
Ich kann buchstabieren. Ich bin schüchtern. Ich habe mich nie richtig mit | |
der Frauenwelt auseinandergesetzt. Behindert zu sein und richtig Geld | |
verdienen ist schwer. Und immer alles geschenkt bekommen, Almosen, und nur | |
in der Werkstatt arbeiten ist richtig schwer. Ich mache Ergotherapie und | |
gesellschaftliche Auseinandersetzung. Ich habe mit mir und meiner | |
Sexualität, den Gefühlen Probleme. | |
Ich muss lernen, Pausen zu machen. Meine Sprache ist ’ne andere, als normal | |
zu sein. Einen Monat lang war ich Koch, einen Monat lang war ich Gärtner. | |
Dann Schauspieler in der Werkstatt. Ich wollte nicht gern behindert sein. | |
Ich kam unter ein Auto. Wir lebten in Waidmannslust in einer Laube, später | |
im Märkischen Viertel im vierten Stock. Berlin. Meine Mutter sagte immer, | |
ich sollte eine Petra werden. | |
Ihre Mutter hatte vier Söhne, bevor Sie auf die Welt kamen. | |
Gerd, 53, ist Fabrikarbeiter. Bernd, 48, ist krank, arbeitslos, er hat ein | |
kaputtes Bein. Thomas, 47, ist Fabrikarbeiter, arbeitet, isst, ist | |
kugelrund. Uwe ist ein Jahr älter als ich. Er hat ’ne halbe Freundin, | |
Maßnahmen, Hartz IV. Ich bin am 8. November 1968 geboren. | |
Die Brüder waren eifersüchtig auf mich. Bernd ist sauer, weil sein Bein | |
nicht heilen tut. Ich habe Mutter geliebt, aber wenn die sich gestritten | |
haben, dann konnte ich es nicht aushalten. Die Brüder haben gestritten. Die | |
haben Mutter auch sehr geliebt und stellen heute noch Kerzen auf. Der Bernd | |
hat keinen Job, und ich hab keine Freundin. | |
Ist das ungerecht? | |
Die Sozialamtsfrau sagt, du kannst nicht schreiben, aber ich kann | |
einigermaßen lesen. Ich träume von einer Traumfrau, aber wenn ich eine Frau | |
ganz normal umarme, habe ich Angst, dass meine Hand ihre Brust berührt. Ich | |
habe mich eingesperrt, gebissen, weil ich nicht weiß, wie ich der Frau | |
nicht unter den Rock fassen kann. Wenn du behindert bist, bist du wie | |
zweite Wahl. Normal sein heißt, dass du keinen Betreuer brauchst, der für | |
dich mitdenkt. Du hast manchmal ein Benimm ohne Ahnung. Ich muss alles | |
lernen, um korrekt zu sein. | |
Wovon träumen Sie? | |
Richtig Schauspieler werde ich nicht sein, weil ich einen Betreuer brauche | |
für das Geld. Ich wohne allein, betreutes Einzelwohnen. Wenn ich allein | |
bin, kaufe ich ein oder gehe schwimmen, Tischtennis spielen. Behindert sein | |
heißt, eingeschränkt sein in seinen Mitteln. Manchmal traue ich mich nicht, | |
allein rauszugehen wegen Nazis und so. | |
Man braucht Mut. Die Leute sagen Wichser, Arsch. Es gibt genug arbeitslose | |
Trinker, saufen sich die Hucke voll auf der Bank und schimpfen auf | |
Ausländer und die Behinderten. In Gesellschaft ist es eine Moral, Angst zu | |
haben vor allem, was anders ist. | |
Obwohl er gerade in der Kostümbildnerei sitzt, steht Peter Pankow jetzt auf | |
der Bühne. Er spielt die Rolle seines Lebens: Er spielt sich selbst. | |
Das Thema Geld ist wie ’ne Droge. Das Thema Geld ist ’ne Schleife. Du bist | |
verrückt im Kopf, und dann findest du die Frau schön, aber die Frau will | |
nichts von dir wissen. Dann machst du die Sehnsuchtshucke voll. Ich feiere | |
auch mal. Es gibt kein Tabu ohne Laster. Ich fühle mich wie Jekyll und | |
Hyde. Bist du reich und verlogen oder arm und ehrlich? Ich fühle mich | |
zweigeteilt. Ich lerne lange. Ich berühre nicht. | |
Jekyll und Hyde – sind Sie Ihr eigener Doppelgänger, Herr Pankow? | |
Ich war verlobt. In einer Fantasiewelt träume ich von Kindern. Aber ich bin | |
behindert. Wir sind wie Freaks. Wir brechen die Schallgrenzen auf dem Weg | |
des guten Geschmacks. Wir leben vom Sozialamt, wir leben von anderen | |
Knochen. Als Behinderter ist man ein Untersuchungsfall, ein Probierproblem. | |
Ständig musst du mit Psychologen sprechen: Wann fing das an, mit den Frauen | |
unter den Rock gucken? Wann, sich wie ein Halbirrer zu benehmen? Hihi. | |
Haha. | |
Pankow schwitzt, Pankow wischt sich mit einem Taschentuch die Stirn. Die | |
Luft ist schlecht. Der Raum hat kein Fenster. | |
Ich will meine Mutter wiederhaben. Ich will Geld haben. Ich will keinen | |
Betreuer. Ich beiße mir in den Arm. Wenn ich wütend bin, beiß ich in meinen | |
Arm. Das verheilt nie. | |
Am Ende eines Worts ein neues Wort. Am Ende eines Satzes ein Sprung. | |
Du musst alles mit Sündenkuss zurückzahlen: Darf man Tabuthemen überhaupt | |
auf die Bühne bringen, ohne die Menschenrechte zu verletzen? Darfst du | |
saufen oder auf den Busen linsen? Wenn du arm bist, ist alles Moral, wenn | |
du reich bist, nicht. Aber wenn du jemanden an den Busen fasst, kommt der | |
Vater und zieht dich zur Rechenschaft. Heute sagt man, du bist behindert, | |
aber sie gucken nicht zu den Nazis, den U-Bahn-Schlägern, die saufen und | |
versuchen, das Gewissen auszuschalten. | |
Die machen zu viel mit der Playstation rum oder gucken Adolf-Filme, und | |
dann flippen sie aus und sind radikal, aber nicht behindert. So viel | |
Fernsehen, so viel Fußball, so viel Alkohol und dann der Frau unter den | |
Rock – aber die bekommen keine Betreuer. Die Gesellschaft ist ungerecht und | |
manchmal kann man sich nicht wehren. | |
Nach diesem Auftritt führt Pankow durch die Werkstatt. Im Kunstatelier | |
breitet er die Bilder, die er unlängst im Stück „Pankow Protokolle“ malte, | |
auf dem Boden aus. Riesige Blätter, Strukturen, Formen, Figuren. Farbstark, | |
obsessiv, den ganzen Raum einnehmend. Zum Redefluss kommt bei Pankow der | |
Strichfluss, der Farbfluss. Eins geht ins andere über. | |
Pankow beschreibt ein Bild: „Der polternde Stuhl macht Knack im System, und | |
dann ist die Energie weg.“ Und ein anderes: „Das ist ein schöner, | |
hungriger, dünner Mann mit Doppelkopf. Er guckt was von der Frau ab.“ Und | |
auf dem nächsten Bild findet er die zentrale weibliche Figur, eine | |
Übermutter, eine Urmutter: „Unattraktiv. Verspottbar.“ | |
Corinna M., eine dünne verschüchterte Autistin, gesellt sich zu Pankow und | |
wandert mit ihm im Labyrinth seiner Bilder. Sie deutet auf eines mit | |
Figuren in Gelb, in Orange. „Die Knie sind sehr gut“, sagt sie. | |
21 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
Waltraud Schwab | |
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