# taz.de -- Debatte Paralympics: Stars ohne Rückhalt | |
> Längst haben anders talentierte Spitzensportler die Nische verlassen. | |
> Paraxoderweise bringt das nicht viel mehr Integration. | |
Bild: Kein Applaus, dafür Barrieren überall: Der Alltag von Menschen mit Behi… | |
Eleanor Simmonds. Die Britin ist Schwimmerin und eines der Gesichter, mit | |
denen seit Monaten für die Paralympics in London geworben wird. Als die | |
Modeschöpferin Stella McCartney im März die von ihr designten Outfits für | |
die britischen Olympia- und Paralympics-Athleten vorstellte, stand die | |
kleine Frau neben dem olympischen Superturner Louis Smith und | |
Siebenkampfstar Jessica Ennis. Seitdem ist sie ein echter Star im | |
Königreich. | |
Irrsinnige Erwartungen lasteten auf den Schultern der kleinwüchsigen | |
Athletin. Sie hat sie erfüllt. Zwei Goldmedaillen holte sie im | |
paralympischen Schwimmbecken. In den Wirtschaftsteilen der Zeitungen | |
rechnen Sponsoring-Experten vor, wie viel Simmonds Siege wert sein könnten. | |
Manche kommen auf 380.000 Euro, andere auf 630.000 Euro. Behindertensport | |
kann sich lohnen. Das ist eine der Geschichten, die die Londoner | |
Paralympics geschrieben haben. | |
Längst machen Unternehmen nicht mehr verschämt auf ihr Engagement im | |
Behindertensport aufmerksam. Mit den Paralympics lässt sich punkten in der | |
Konsumgesellschaft. Samsung, seit langem ein Hauptsponsor der olympischen | |
und paralympischen Bewegung, hat einen Werbeclip produziert, in dem ein | |
Schwimmer ohne Beine, ein einarmiger Bogenschütze und eine | |
unterschenkelamputierte Weitspringerin zeigen, dass „Sport doesn’t care who | |
you are“ – so der Titel des Spots. | |
## Mehr Publikum als früher | |
Stolz verkündete auch der deutsche Versicherungskonzern Allianz während der | |
Paralympics, dass er die internationale Behindertensportbewegung weiter | |
unterstützen werde. In Deutschland übertragen ARD und ZDF 70 Stunden aus | |
London – doppelt so viel wie von den Paralympics zuvor in Peking. Sind die | |
Behindertenspiele auf dem Weg zur ganz großen Nummer? | |
2,5 Millionen Karten wurden für die Wettbewerbe in London verkauft. Mehr | |
Tickets gab es nicht. Die Bilder von begeisterten Menschen auf den Tribünen | |
unterscheiden sich nicht von denen, die Olympia geliefert hatte. Die | |
Spitzenleistungen werden gefeiert und die Bemühungen der Sportler, die es | |
nicht aufs Podest schaffen, mit freundlichem Applaus honoriert. | |
Dazu werden die Geschichten erzählt von Lähmungen, tragischen Unfällen oder | |
Kriegsverletzungen, die die Teilnehmer erst zu Parasportlern gemacht haben. | |
Sie sorgen für Raunen und Staunen und steigern den Respekt, der den | |
SportlerInnen entgegengebracht wird. | |
In dieser Hinsicht entwickeln sich die Paralympics in eine ähnliche | |
Richtung wie die Olympischen Spiele. Da gibt es zwar viele Sportler, denen | |
es ums Dabeisein geht. Doch am Ende zählt beinahe nur der Sieg. Dass die | |
Behindertensportler in der Leistungssportgesellschaft angekommen sind, mag | |
ein Erfolg sein. Er hat indes einen hohen Preis. Den kann nicht jeder | |
zahlen. | |
## Erfolgen folgt Ausschluss | |
Teure Sportrollstühle können bis zu 5.000 Euro kosten, und die Prothesen, | |
mit denen der südafrikanische Starsprinter Oscar Pistorius die Laufbahn | |
beackert, kosten über 25.000 Euro. Es gibt nicht viele Nationen, die ihre | |
Behindertensportler mit derart hochwertigem Material ausstatten können. Und | |
so bleiben ausgerechnet bei einem Event, bei dem das große Thema die | |
Inklusion ist, viele Menschen außen vor. | |
Je professioneller die Paralympics werden, je mehr Aufmerksamkeit sie | |
gewinnen, je mehr Geschäft mit ihnen gemacht werden kann, desto mehr | |
Sportler bleiben außen vor. An der Spitze streiten sich Profis um die | |
Medaillen, während die Amateure um ein nicht wettbewerbstaugliches | |
Fortbewegungsmittel regelrecht betteln müssen. | |
Die bunten Bilder aus London, die irren Leistungen der Sportler, die viele | |
nichtbehinderte Menschen auch deshalb so faszinieren, weil sie sehen, dass | |
die Parasportler mehr können, als sie selbst je schaffen werden, sind | |
Heile-Welt-Bilder, die suggerieren, dass alle etwas Besonderes schaffen | |
können. Die bundespräsidiale Begeisterung für den Behindertensport mag | |
ehrlich sein. | |
„Ich habe Respekt vor Menschen, die Hochleistungen bringen wollen, aber | |
sich dabei noch mehr anstrengen müssen als andere“, sagte Joachim Gauck bei | |
seinem Besuch in London, als er den ersten deutschen Medaillengewinnern die | |
Plaketten überreicht hat. Doch auch seine Begeisterung dürfte weichen, wenn | |
er sich ein wenig näher mit den Realitäten des Behindertensports in | |
Deutschland beschäftigen würde. Sport gehört für die meisten Behinderten | |
hierzulande nicht zum Alltag. | |
## Zurück zum Behindertenalltag | |
Von den 13 Millionen Menschen mit Behinderung sind gerade einmal 600.000 | |
beim Deutschen Behindertensportverband registriert. Viele von ihnen machen | |
Rehasport und betreiben keine Wettbewerbsdisziplinen. Der alltägliche | |
Behindertensport ist eine eigene, meist abgeschlossene Welt, in der kaum | |
einmal Kontakt zu nichtbehinderten Sportlern zugelassen wird. | |
Viele traditionelle Sportvereine haben keine Trainer, die sich mit Fragen | |
des Behindertensports beschäftigt haben, viele Sportanlagen sich für | |
Behinderte nur schwer oder gar nicht zugänglich. Die querschnittgelähmte | |
Schützin Manuela Schmermund, die in London Silber gewonnen hat, schießt | |
auch bei den Nichtbehinderten mit. In Deutschland ist so etwas die absolute | |
Ausnahme. Von Inklusion, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention | |
vorsieht, ist man hierzulande, was den Sport betrifft, noch weit entfernt. | |
Das mediale Großereignis Paralympics trägt immerhin dazu bei, dass über | |
Integration und Inklusion in einer größeren Öffentlichkeit diskutiert wird. | |
Doch im Jubel über die Großtaten der siegreichen Athleten wird oft | |
vergessen, dass es für die meisten behinderten Menschen überall auf der | |
Welt nicht vorrangig darum geht, sportliche Spitzenleistungen zu erzielen, | |
sondern ganz einfach ihr Leben zu meistern. | |
Eines haben die Paralympics zumindest für die vergangenen zwei Wochen auch | |
diesen Menschen gebracht. Sie haben Behinderte über die Medien in den | |
Alltag der Nichtbehinderten geholt. Selbstverständlich ist das nicht. | |
9 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
## TAGS | |
Sportarten | |
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