# taz.de -- Paralympics-Gewinner Markus Rehm : „Das stimmt, das ist ungerecht… | |
> Der Leichtathlet Markus Rehm über seinen Weg hin zum Behindertensport, | |
> unfaire Wettkämpfe und den oft aussichtslosen Kampf um Sponsoren | |
Bild: Die Prothesen baute Markus Rehm seiner Lebensgefährtin selbst: Vanessa L… | |
taz: Herr Rehm, bis zum Alter von zwölf Jahren waren Sie Leichtathlet. Dann | |
haben Sie fast zehn Jahre nichts damit zu tun gehabt. Wie kam das? | |
Markus Rehm: Als kleiner Junge war ich schon mal Weitspringer und Sprinter | |
gewesen, ich war auch ganz gut damals. Aber dann löste sich die | |
Trainingsgruppe in meinem Dorf auf, und mit 14 wurde mir durch meinen | |
Unfall mit dem Wakeboard der rechte Unterschenkel amputiert. Über | |
Leichtathletik habe ich erst mal nicht mehr nachgedacht, auch weil | |
Sportprothesen zu teuer waren und keine Krankenkasse dafür gezahlt hätte. | |
Also habe ich erst mal mehrere andere Sportarten ausprobiert. Auf einer | |
Reha-Fachmesse in Düsseldorf vor vier Jahren habe ich dann ein paar | |
Vorführungen auf einem Trampolin gemacht. Da kontaktierte mich der Athlet | |
Heinrich Popow, der ja auch in London an den Spielen teilnimmt. | |
Popow hat Sie für einen Abend zum Trainingsleistungszentrum nach Leverkusen | |
eingeladen, wo Sie ankündigten, Sie könnten ohne Training 5,30 Meter | |
springen. | |
Da haben die erst mal gelacht, weil so eine Weite schon den deutschen | |
Rekord für Unterschenkelamputierte bedeutet hätte. Die Jungs haben mich | |
daraufhin in die Sporthalle geführt und mir gleich eine Sportprothese mit | |
Karbonfeder in die Hände gedrückt, die immerhin rund 2.500 Euro wert war. | |
2008 habe ich tatsächlich 5,50 Meter geschafft. Damit war mir klar, dass | |
ich wieder trainieren würde. Kurz darauf bin ich nach Leverkusen gezogen. | |
Seitdem ist alles ziemlich schnell vorangegangen. | |
Heinrich Popow ist heute Ihr direkter Gegner. Beim Weitsprung vergangene | |
Woche sind Sie mit 7,35 Metern Weltrekord gesprungen, während Popow, der | |
2004 in Athen noch Bronze gewonnen hatte, nur Vierter wurde. | |
Das spricht für das Wettkampfniveau. Heinrich sieht seine Stärken eher im | |
Sprint, wo er auch Medaillen geholt hat. Man kann nicht mehr auf mehreren | |
Hochzeiten tanzen, das hat er ganz passend formuliert. Man muss sich | |
heutzutage eben auf eine Disziplin spezialisieren. Ich habe zum Beispiel | |
kaum eine Chance im Sprint, bin aber stark im Weitsprung. | |
Mit Ihrem Sieg im Weitsprung kam aber auch die Frage der fairen | |
Kategorieneinteilung auf. Oberschenkel- und Unterschenkelamputierte treten | |
gegeneinander an. Die unterschiedlichen Bedingungen sollen durch eine | |
Punkteregelung ausgeglichen werden, die de facto aber ungerecht ist. Der | |
Deutsche Wojtek Czyz, der schließlich Silber holte, hatte schon vor dem | |
Lauf gewusst, er hätte keine Chance mehr auf Gold, sobald Sie deutlich über | |
sieben Meter weit springen. Um dieselbe Punktzahl wie Sie zu bekommen, | |
hätte er über zwölf Meter weit springen müssen. | |
Das stimmt, das ist ungerecht. Der Punkteregelung liegen die vorigen | |
Bestleistungen in der bestimmten Klasse zugrunde. Bei den | |
Unterschenkelamputierten wie mir waren die erreichten Weiten vorher eben | |
nicht so gut gewesen, deswegen bekam ich für einen guten Sprung mehr Punkte | |
als Wojtek Czyz oder Heinrich Popow als Oberschenkelamputierte. Das | |
grundsätzliche Problem ist in meinen Augen aber, dass wir überhaupt | |
zusammen springen müssen. Eigentlich sollten da unterschiedliche Kategorien | |
eingeführt werden. | |
Aber wenn das der Fall wäre, hätten Sie erst mal keine Konkurrenz mehr. | |
Da bin ich mir nicht so sicher. Momentan springe ich unter den | |
Unterschenkelamputierten recht deutlich am weitesten, das kann sich aber | |
schnell ändern, weil der Behindertensport sein Potenzial noch nicht | |
ausgeschöpft hat. Ich selbst bin zum Beispiel auf den ersten Paralympischen | |
Spielen meiner Karriere, war aber noch vor kurzer Zeit kaum jemandem | |
bekannt. Solche schnellen Leistungszuwächse wird es auch bei anderen | |
Athleten noch geben. | |
Unbekannt sind Sie aber nicht mehr. Noch am Tag Ihres Sprungs zum | |
Weltrekord und Gold hat jemand einen Eintrag bei Wikipedia von Ihnen | |
erstellt. | |
Das war eine nette Nachricht, als ich davon erfahren habe. Aber auch was | |
sich generell gerade in London abspielt, ist unglaublich. Ein Stadion mit | |
80.000 Zuschauern zu füllen, sind wir Behindertensportler bisher nicht | |
gewohnt gewesen. Dazu kommt die Aufmerksamkeit von den Medien, wo meine | |
erfahreneren Mannschaftskollegen auch berichten, dass die bisherigen | |
Paralympics mit London nicht zu vergleichen sind. Das ist alles gut, weil | |
die Leute, die derzeit die Spiele verfolgen, die Wettkämpfe wirklich ernst | |
nehmen. Sie sehen, dass behinderte Sportler richtige Athleten sind. | |
Obwohl Sie Teil der geförderten Elite in Deutschland sind, können Sie von | |
Ihrem Sport bisher nicht leben. | |
Von der Deutschen Sporthilfe werde ich momentan mit 250 Euro im Monat und | |
den Kosten für den Sport unterstützt. Das reicht natürlich nicht einmal für | |
die Miete, aber es ist eine gute Hilfe. Meinen Job als Orthopädietechniker | |
habe ich in der Vorbereitung für London auf eine Halbtagsstelle reduziert. | |
Auf bestimmte Weise geht der Sport deswegen auf meine eigene Kappe, weil | |
ich jetzt auch nur das halbe Gehalt bekomme. Aber sonst könnte ich keine 20 | |
Stunden oder mehr pro Woche trainieren. | |
Ist mit London 2012, wo die bisher größten Paralympics stattfinden, die | |
Zeit der großen Sponsorenakquise für Behindertensportler gekommen? | |
Das hoffen wir alle. In anderen Ländern gibt es ja längst Vollprofis, zum | |
Beispiel in Südafrika oder Großbritannien. Oscar Pistorius ist der große | |
Vorreiter. Im paralympischen Dorf wird sich auch von Goldprämien um die | |
50.000 Euro erzählt. In Deutschland sind wir davon bisher weit entfernt, | |
aber vielleicht schaffen wir es, mit guten Leistungen ein Ausrufezeichen zu | |
setzen. Ich glaube schon, dass Behindertensportler sich gut vermarkten | |
lassen. Mit so einem Audi-Werbespruch wie „Vorsprung durch Technik“ könnte | |
man doch eigentlich perfekt einen beinamputierten Weitspringer ins Auto | |
setzen. Gerade jetzt, wo so viele Menschen Behindertensport verfolgen. | |
Aber der deutsche Kader wurde zuletzt von einer Großveranstaltung zur | |
nächsten immer schwächer. Im Medaillenspiegel stand Deutschland nach | |
Barcelona 1992 noch auf Platz zwei, mittlerweile reicht es nur noch für das | |
obere Mittelfeld. | |
Das hat viel damit zu tun, dass andere Länder über die Jahre begonnen | |
haben, ernsthaft Sportförderung zu betreiben. Früher konnten Athleten mit | |
deutlich weniger Trainingsaufwand an die Weltspitze kommen als heute. | |
Deswegen liegt Deutschlands schwächeres Abschneiden im Medaillenspiegel | |
auch daran, dass wir keine Profis sind. Könnten wir uns alle voll auf das | |
Training konzentrieren, wären wir sicher in vielen Disziplinen stärker. An | |
den Trainern und der Ausstattung mangelt es jedenfalls nicht. | |
Sie sind auch in der Nachwuchsarbeit aktiv. Kommen gute Talente nach? | |
Ich kenne schon ein paar vielversprechende Jugendliche. Wenn die | |
dabeibleiben, könnten sich einige davon schon für Rio 2016 qualifizieren. | |
Wir Athleten und Trainer halten auch immer unsere Augen offen, aber zu | |
viele Kinder wissen noch nicht, dass es zum Beispiel in Leverkusen ein | |
Leistungszentrum gibt, wo behinderten Athleten die gleichen | |
Trainingsmöglichkeiten offenstehen wie den nichtbehinderten. Wenn die erst | |
mal kommen, begeistern sich auch viele. Ich bemühe mich dann, dass sie die | |
richtigen Prothesen bekommen. | |
Als ausgebildeter Orthopädietechniker bauen Sie sich Ihre Prothesen selbst. | |
Das gilt auch als einer Ihrer Vorteile in Wettkämpfen. | |
Ja, das stimmt. Wenn zum Beispiel etwas am Schaft nicht richtig sitzt, weiß | |
ich meistens, was geändert werden muss, welche Materialien man braucht und | |
so weiter. Das hilft auch meinen Trainingskollegen. | |
Bauen Sie diese auch für Ihre Freundin Vanessa Low, die wie Sie in London | |
im Sprint und Weitsprung antritt? | |
Athleten, die im Wettkampf sind, gebe ich lieber Tipps, als ihnen gleich | |
eine Prothese zu bauen. Sonst müsste ich auch die Verantwortung tragen, | |
wenn da etwas nicht stimmt. Aber das Meisterstück zum Ende meiner | |
Ausbildung habe ich schon für Vanessa gebaut. | |
8 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Felix Lill | |
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