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# taz.de -- Indien bei den Paralympics: Rütteln am Riesen
> Hochspringer Girisha Hosanagara hat Silber für das winzige indische Team
> gewonnen. Sein Satz soll den Parasport in seiner Heimat endlich zum Leben
> erwecken.
Bild: Girisha Hosanagara Nagarajegowda springt im Finale des paralympischen Hoc…
LONDON taz | Wäre es nach den Aktivisten gegangen, hätte weder das
olympische noch das paralympische Team nach London kommen sollen. Es gab
Boykottaufrufe, weil Dow Chemical die Olympischen und Paralympischen Spiele
sponsert, jener Chemiekonzern, der sich bis heute weigert, die
Verantwortung für die Folgen der Megakatastrophe von 1984 im indischen
Bhopal zu übernehmen.
„Dieser Armreif aus Holzkugeln stammt von den Menschen aus Bhopal“, sagt
Rathan Singh, der Generalsekretär des Indischen Paralympischen Komitees
(PCI), und zeigt auf seinen rechten Arm. Er versteht die Aktivisten. „Aber
ein Boykott wäre weder gerecht gegenüber den Athleten noch für den
indischen Parasport gewesen. Bis 1988 war die Idee, dass Behinderte Sport
betreiben, in Indien so gut wie nicht existent“, sagt Singh. 1988 wurde das
PCI gegründet. Zwölf Jahre lang musste man den Parasport allein mit
privaten Spenden am Leben erhalten. Erst danach gab es auch Zuschüsse der
Regierung.
In der Geschichte der modernen Olympischen Spiele konnte Indien nur selten
Medaillen gewinnen – hauptsächlich in Feldhockey. Die sechs Plaketten, die
indische Sportler vor einigen Wochen in London gewonnen haben, bedeuteten
einen neuen Rekord. Noch nie gab es so viel Edelmetall. Ein sportlicher
Aufbruch?
Zu den Paralympics hat das 1,2 Milliarden-Menschen-Land nur zehn Sportler
geschickt – allesamt Männer. Die indischen Sportler, insbesondere
Sportlerinnen, hätten es nicht geschafft, die paralympischen
Qualifikationsstandards zu erfüllen, sagt Gucharan Singh, der Schatzmeister
des Indische Paralympischen Komitees. Und dann musste auch noch Goldfavorit
Sharadjadar, der Weltranglistenerste seiner Klasse im Hochsprung, aufgrund
einer Krankheit absagen.
Umso mehr wurde die Silbermedaille von Girisha Hosanagara im Hochsprung der
Klasse F42 der Menschen mit Fußbehinderung gefeiert. Es war erst die achte
Medaille für einen indischen Parasportler in der Geschichte der Spiele.
Gurcharan Singh weiß, dass das besser sein könnte. „Offiziell sind drei bis
vier Prozent unser Bevölkerung behindert, inoffiziell könnten es um die
zehn Prozent sein“, so Singh. Und: „Wenn wir ein Staat wie China wären,
würden wir die Menschen per Diktat zu den Paralympics schicken. Aber als
Demokratie ist das nicht so einfach.“ Es gebe immer noch gesellschaftliche,
aber auch kommerzielle Barrieren.
## Almosen statt Förderung
Diejenigen in Indien, die behindert und arm sind, wüssten zum Teil gar
nicht, dass es Parasport gibt. Wüssten sie davon, bekämen sie kaum
finanzielle Unterstützung. Die gut informierte Oberschicht Indiens mache
sich nichts aus Parasport, obwohl es sich das wirtschaftliche Powerhaus
Panjab durchaus leisten könnte, auch paralympischen Sport zu unterstützen.
Mit der Silbermedaille von Hosanagara soll sich das ändern. Sein Erfolg hat
es in die indischen Massenmedien geschafft. Chef de Mission Rathan Singh
erinnert daran, dass es bei den Asienspielen der Behindertensportler
etliche Medaillen gegeben hat.
Schwimmer Sharath Gayakwad gewann da Bronze und qualifizierte sich für die
Paralympics. Gayakwad betreibt Parasport seit zwölf Jahren, als er in
seiner Schule Schwimmen als Pflichtfach mit allen anderen hatte. Er machte
einfach mit – trotz seines von Geburt an verkürzten linken Arms.
Seine ersten Paralympics waren für den 22-Jährigen ein unglaubliches
Erlebnis, auch wenn er sich für keinen Endlauf qualifizieren konnte.
Aufgrund seiner begüterten Eltern lebt er im Wohlstand, studiert
Psychologie und Journalismus. Er findet, dass in Indien viele Behinderte
nicht gleichberechtigt sind: „Das traditionelle Bild ist, dass ein Mensch
mit Behinderung ein Fall für Almosen ist.“
Gurcharan Singh ist sich sicher, dass sich das ändert. „Indien ist ein
schlafender Gigant, der nur aufgeweckt werden muss.“ Hochspringer
Hosanagara hat mit seinem Silbersprung schon kräftig an dem Riesen
gerüttelt. Ob er bald schon aufwacht? Wegen der drei Millionen Rupien
(42.000 Euro) zusätzlicher Förderung, die der indische Sportminister
angekündigt hat, wird er sich wohl nicht einmal umdrehen.
9 Sep 2012
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
## TAGS
Sotschi 2014
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