# taz.de -- Berliner Inklusionstheater Thikwa: Von Glückssuche und Einsamkeit | |
> Vordenker des Inklusionstheaters: Das Berliner Theater Thikwa und seine | |
> Performer feiern 25-jähriges Jubiläum. Ihre Emanzipation geht weiter. | |
Bild: Liebt es, Bahn zu fahren: Performer Torsten Holzapfel, der seit 1991 beim… | |
Die Underdogs der Theaterszene haben sich durchgeboxt, und zwar bis nach | |
oben. Als die Niedlichen, Harmlosen, schrullig Verquerten galten sie lange. | |
Die, denen man auf der Bühne einen Mitleidsbonus gewährte. Wenn man sie | |
überhaupt wahrnahm. Bis im Herbst 2012 drei Performer des Theater Thikwa | |
erstmals in der Völkerschau-Persiflage „Dschingis Khan“ auftraten und den | |
regulären Theaterbetrieb mit einem Schlag dazu brachten, nicht mehr | |
wegzuschauen. | |
Die Schauspieler mit Down-Syndrom spielten an dem Abend in Zottelpelzen als | |
Mongolen wie in einer Menschenausstellung. Ließen sich vorführen unter | |
ständigen Kommandos, wie sie sich zu bewegen haben, machten Schießübungen | |
und andere Verrichtungen im kolonialen Bilderstil des 19. Jahrhunderts. | |
Dann aber, im zweiten Teil drehten sie den Spieß gehörig um, nahmen das | |
Geschehen selbst in die Hand. Ihr anarchischer Selbstbehauptungs-Furor war | |
unübersehbar, die provokante Botschaft kam an. | |
In der breiten Theateröffentlichkeit entfachte sich eine monatelange, | |
zeitweise hitzige Debatte über die Repräsentanz behinderter Künstler auf | |
der Bühne. Gerade, weil „Dschingis Khan“, eine Koproduktion mit dem | |
Gießener Kollektiv Monster Truck, auch etliche Fragen offen ließ: was | |
eingeübt war und wo die Performer improvisieren, was ihre Idee war oder | |
ihnen als Konzept womöglich aufgedrückt wurde. | |
Die Diskussion löste ein, was man sich bereits Anfang der Neunzigerjahre | |
erhoffte, als Thikwa in Berlin gegründet wurde: über Theater mit | |
Behinderten in ästhetischen Kategorien zu denken. Die Inszenierungen als | |
Kunst zu betrachten, nicht als therapeutische Beschäftigung, etwas, das | |
sich lange in den Zuschauerköpfen gehalten hat. | |
## Das Werkstattprinzip im künstlerischen Bereich | |
Das Theater Thikwa gilt heute als eine der wichtigsten und relevantesten | |
Gruppe, die den Diskurs bestimmt. Seit 2012 leitet die Regisseurin Nicole | |
Hummel zusammen mit Gerd Hartmann das Ensemble. Auf ihre Initiative öffnete | |
man sich für neue, postdramatische Spielformen. „Innovativ sein“, nennt | |
Hummel als Ziel des Generationenwechsels und des neuen Experimentierens, | |
für das sie sich einsetzt. | |
Von der performativen Öffnung profitiert das Theater – aber auch von der | |
hartnäckigen Aufbauarbeit, die die Theatergründer leisteten. In den | |
Anfängen wurde abends nach Feierabend geprobt. An feste Schauspielerstellen | |
war noch nicht zu denken. Nach und nach wurden bezahlte Schauspiel- und | |
Künstlerstellen geschaffen, Ateliers und Probebühne für insgesamt 43 | |
Mitarbeiter. Es gelang das Werkstattprinzip, in dem man Behinderte bis dato | |
vor allem in Handwerksberufen förderte, auf den künstlerischen Bereich | |
auszuweiten. Eine Institutionalisierung von kaum zu unterschätzender | |
Bedeutung. | |
Was ist normal, was ist anders und wie verhält man sich dazu, das sind | |
immer wieder Grundfragen inklusiver Theatergruppen, ob bei RambaZamba und | |
ihren mit Bezugsschnipseln aufgeladenen Klassikerbearbeitungen, oder dem | |
ebenfalls experimentell arbeitenden Schweizer Theater Hora, die mit | |
„Disabled Theater“ 2013 als erste Gruppe zum Berliner Theatertreffen | |
eingeladen wurden. | |
## Seit 2006 gibt es das Theater in Berlin-Kreuzberg | |
Literarische Stücke und Stoffe sucht sich Thikwa, oft um autobiografische | |
Notizen und Themen ergänzt: die eigene Identität, diskriminierende | |
Erfahrungen, Glückssuche, Sexualität. Das kontinuierliche Schauspiel-, | |
Stimm-, Bewegungs- und Texttraining hat die Schauspieler | |
professionalisiert, auch wenn bestimmte Defizite dazugehören. Von | |
Textaussetzern oder Bewegungsunsicherheiten sollte man sich als Zuschauer | |
nicht täuschen lassen. Die Thikwa-Schauspieler sind Vollprofis, die über | |
jahrzehntelange Erfahrung verfügen und teilweise von Anbeginn zum Ensemble | |
gehören. | |
Dieser Status schützt nicht vor Kritik. Als „Dschingis Khan“ herauskam und | |
Behindertentheater plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, lautete | |
ein Vorwurf, dass die Schauspieler auf der Bühne bloßgestellt und | |
manipuliert werden, dass sie nicht wissen, was sie tun. „Das ist natürlich | |
nicht der Fall“, sagt Nicole Hummel, die in Publikumsgesprächen und auf | |
Symposien immer wieder dagegen argumentieren muss. Sich mit den | |
Sehgewohnheiten und Vorbehalten der Zuschauer auseinanderzusetzen, Wege zu | |
entwickeln, sie zu durchbrechen, sei eben fester Bestandteil. | |
Seit 2006 hat Thikwa eine eigene Spielstätte in Berlin-Kreuzberg und | |
funktioniert als eigenständiges Theater mit Premieren, Wiederaufnahmen, | |
Gastspielen, Kooperationen mit der freien Szene und Theatern in Russland | |
und Japan. Derzeit laufen 20 Inszenierungen im Repertoire, darunter auch | |
große Ensemblearbeiten. Das kollektive Spiel bietet Schutzraum und | |
Lernmöglichkeit für jüngere oder weniger präsente Spieler. Ein Prinzip, das | |
nicht behindertenspezifisch ist, aber hier besondere Bedeutung hat: | |
Austausch untereinander, Teilhabe und Wechselspiel, in dem ein jeder als | |
Individuum sichtbar werden kann. | |
## Langsam wirken die Arbeiten selbstverständlicher | |
Denn ja, über starke Persönlichkeiten verfügen die Thikwa-Schauspieler. | |
Anlässlich des 25. Jubiläums präsentiert das Theater eine Miniwerkschau mit | |
vier Porträtperformances. Quasi solistische Arbeiten etwa von Peter Pankow, | |
langjähriges Mitglied, der für seine bildnerische Arbeit mehrfach mit | |
Preisen ausgezeichnet wurde. In „Protokoll Pankow“ zeichnet er über weite | |
Strecken an einem Wandgemälde, während Regisseur Dominik Bender Pankows | |
sprachgewaltige Monologe spricht, in dem sich Alltagserlebnisse mit | |
Einsamkeit, unterdrückter Sexualität und psychischer Erschütterung mischen. | |
Wie sich das auf der Bühne mit Pankows wacher, ironischer Präsenz bricht, | |
entwickelt einen ganz eigenen Sog. Auch der Abend „Subway to heaven“ läuft | |
wieder, den Torsten Holzapfel mit dem Performer Martin Clausen entwickelt | |
hat. Holzapfels schwierige Kindheit mit viel häuslicher Gewalt ist genauso | |
Thema wie seine Liebe zum U-Bahnfahren. In bester Performancemanier | |
verschmelzen hier Privatperson und Schauspielerrolle. Ein ganz anderer | |
Zugang als bei Pankow, bei dem man eben doch ständig denkt, das sein | |
Anderssein ihn zum Original macht. | |
Sah man vor Kurzem noch vermehrt Inszenierungen mit Behinderten, die das | |
Anschauen und Angeschautwerden zum Thema machen, das Machtverhältnis | |
zwischen Bühne, Zuschauer, Regieführen, wirken diese Arbeiten schon wieder | |
viel selbstverständlicher darin, existenziell grundierte Geschichten zu | |
erzählen. | |
## „Macht, egal was herauskommt, kann nicht der Weg sein“ | |
Denkt man den Autonomiegewinn konsequent weiter, den die Szene gerade | |
erlebt, müssten die Thikwa-Künstler bald auch selbst Regie führen. Eine | |
zweischneidige Sache für Leiterin Hummel. Die meisten Ergebnisse solcher | |
Arbeiten, die bereits etwa bei Hora ausprobiert werden, hält sie für | |
unfertig und nicht zu Ende gedacht. In „Regie“ experimentierte man selbst | |
damit. Die drei Thikwa-Darsteller, Sabrina Braemer, Jonny Chambilla, Oliver | |
Rincke, gaben ihren Einstand als Regisseure der eigenen Arbeit. Das | |
Ergebnis war eine Parodie auf die Machtstrukturen der Theater- und | |
Filmapparatur, fürs Gelingen brauchte es allerdings viel Regiehilfe von | |
außen. | |
„Die Bühne zu überlassen und zu sagen, macht, egal was heraus kommt, kann | |
nicht der Weg sein“, fügt Hummel bei. Das gilt natürlich genauso für alle | |
anderen, „normalen“ Künstler – solche Einwände könnte man an vielen Pu… | |
machen, bringt aber wenig. Die Behindertentheaterszene sammelt gerade | |
Erfahrungen, die sie unter ihren eigenen Vorzeichen auswerten muss. Mit | |
Kontinuität, Einsatz und vielen Diskussionen sind sie bereits beeindruckend | |
weit gekommen. | |
15 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Simone Kaempf | |
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