# taz.de -- Inklusion in Niedersachsen: Mitmachen schwer gemacht | |
> Niedersachen will die Behindertenkonvention umsetzen. Die Landesregierung | |
> ruft Betroffene zur Teilnahme auf – und vergisst die Barrierefreiheit. | |
Bild: Soll sich beteiligen: behinderter Mann am Computer. | |
HANNOVER taz | Niedersachsen entwickelt einen Aktionsplan zur | |
UN-Behindertenrechtskonvention und ruft Menschen mit Behinderung auf, sich | |
an der Debatte über den Entwurf zu beteiligen. „Es ist mir ein besonderes | |
Anliegen, dass sich möglichst viele Menschen mit Behinderungen selbst zu | |
Wort melden und als Expertinnen und Experten in eigener Sache ihre | |
Vorstellungen, Vorschläge und Wünsche vortragen“, sagt Niedersachsens | |
Sozialministerin Aygül Özkan (CDU). | |
Bis zum 15. November können Vorschläge gemacht werden und bereits am 10. | |
Oktober findet eine dreitägige öffentliche Anhörung statt. „Die | |
dazugehörigen Internetseiten und Vorlagen sind aber weder barrierefrei noch | |
leicht verständlich“, sagt Sebastian Böstel vom Paritätischen | |
Wohlfahrtsverband Niedersachsen. „Da hat man doch das Gefühl, dass die | |
Einladung zum Dialog eine reine Alibiveranstaltung ist.“ | |
Auf der Internetseite des Sozialministeriums findet sich der Entwurf des | |
Aktionsplans und auch ein Beteiligungsformular – ein schmales Rechteck | |
zwischen Kleingedrucktem ist es genau genommen. „Aber der Entwurf, über den | |
ja hier diskutiert werden soll, ist ein 45-seitiges Dokument, eng bedruckt, | |
mit verschiedenen Schrifttypen, kleinen Grafiken und in kompliziertem | |
Behördendeutsch verfasst“, sagt Böstel. | |
Es bräuchte stattdessen einen Film mit Gebärdensprache, der die Kernpunkte | |
des Entwurfs zusammenfasst, eine Audioversion und eine Version in leichter | |
Sprache. | |
## Beinahe zynische Versäumnisse | |
Im Entwurf heißt es etwa, es solle umfassende Barrierefreiheit in allen | |
Lebensbereichen geschaffen werden und dazu gehöre auch die „möglichst | |
vollständige Schaffung barrierefreier Internetauftritte im | |
Verantwortungsbereich des Landes“. Es sei natürlich mehr als unglücklich, | |
wenn dann die Internetseite, die sich direkt an die Menschen mit | |
Behinderungen richte, eben nicht barrierefrei sei, sagt Böstel. Diese | |
Versäumnisse seien beinahe zynisch und in keiner Weise nachzuvollziehen. | |
„Der Internetauftritt ist für blinde Menschen nutzbar und gehörlose | |
Menschen können in der Regel lesen und schreiben“, sagt der Pressesprecher | |
der Behörde, Thomas Spieker. Und für Menschen mit kognitiven | |
Einschränkungen werde der Entwurf des Aktionsplans in leichter Sprache | |
erstellt und vor der Anhörung Mitte Oktober verteilt. „Und im Rahmen der | |
mündlichen Anhörung sollen Menschen mit Behinderungen selbst zu Wort | |
kommen“, sagt Spieker. | |
Man vertraue auch darauf, dass die Einrichtungen der Behindertenhilfe den | |
seit Frühjahr 2012 vorliegenden Entwurf den bei ihnen arbeitenden und | |
lebenden Menschen bereits erläutert haben. „Menschen mit fehlendem | |
Sprachverständnis oder Sprachvermögen dürften auch bei Texten in leichter | |
Sprache auf solche Hilfen häufig angewiesen sein“, sagt Spieker. | |
„Wer Formulare und andere Materialien herausgibt, muss auch selbst für | |
Verständlichkeit sorgen“, sagt Frank Steinsiek von der Lebenshilfe | |
Niedersachen, die die Interessen von geistig behinderten Menschen vertritt. | |
Gerade vom Sozialministerium würde er das erwarten. Die Lebenshilfe ziehe | |
immer spezielle Dolmetscher hinzu, wenn mit geistig Behinderten diskutiert | |
werden soll. „Wir haben beim Ministerium vor Wochen nach einem Entwurf des | |
Aktionsplans in leichter Sprache gefragt, aber bisher keine Antwort | |
bekommen“, sagt Steinsiek. | |
Die Lebenshilfe ist einer von 33 niedersächsischen Verbänden, die zur | |
Anhörung eingeladen wurden, aber sie werden keine Betroffenen selbst | |
schicken, sondern nur zwei Leute aus dem Vorstand. „Es nützt uns ja nichts, | |
wenn wir unmittelbar vor der Anhörung ein Dokument in leichter Sprache | |
bekommen, denn wir müssten das ja auch mit Betroffenen besprechen und eine | |
Position entwickeln“, sagt Steinsiek. Auch die Form der Anhörung sieht er | |
kritisch. „Es werden drei Tage lang frontal Vorträge gehalten, das ist | |
nicht die richtige Form, um mit Behinderten ins Gespräch zu kommen.“ | |
27 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Ilka Kreutzträger | |
## TAGS | |
Bundestag | |
Dirigent | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Diskriminierung: Ausgeliefertsein am Gleis | |
Mobilität für alle verspricht die Bahn. Für Rollstuhlfahrer im | |
schleswig-holsteinischen Owschlag gilt das nur, wenn die Schaffner einen | |
kulanten Tag haben. | |
Inklusion in Grundschulen: Kampf um den Förderbedarf | |
Weil für den Start der Inklusion in Niedersachsen Sonderpädagogen fehlen, | |
werde schon jetzt seltener ein Förderbedarf attestiert, befürchten die | |
Landtagsgrünen | |
Leichte Sprache im Bundestag: „Ein großes Haus in Berlin“ | |
Für Menschen mit Behinderungen ist Politik häufig schwer zu verstehen. | |
Deshalb gibt es nun die Bundestags-Website in leichter Sprache. | |
Roboter bringt mehr Autonomie: Am Arm der Technik | |
Für ihren Job an der Uni Bremen übt Lena Kredel mit einem Roboter: In ein | |
paar Tagen soll sie mit seiner Hilfe Bücher katalogisieren. Es ist ein ein | |
großer Schritt für Kredel: Sie ist vom Hals abwärts gelähmt. | |
Dirigent im Rollstuhl: Schwerbehindert und freischaffend | |
Benedikt Lika fühlte sich oft doppelt diskriminiert: als Behinderter und | |
als Vertreter der Generation Praktikum. Jetzt diskutiert er im Bundestag. | |
Schauspieler mit Behinderung: Pankows Litaneien | |
Erst war der Unfall. Dann das Koma. Nachdem Peter Pankow aufwachte und zum | |
zweiten Mal sprechen lernte, hörte er nicht mehr auf. | |
Kommentar Sozialministerin Özkan: Ohne Gespür | |
Die gescheiterte Beteiligung Betroffener am Behinderten-Aktionsplan zeigt, | |
wie schwer sich Sozialministerin Özkan mit ihrer Klientel tut. |