# taz.de -- Zukunft der Gendiagnostik: An der Lebenswirklichkeit orientieren | |
> Mit der Gendiagnostik schwere Krankheiten schnell zu besiegen: Das hat | |
> nicht geklappt. Nun warnt der Ethikrat vor einem Missbrauch des Wissens. | |
Bild: Der Deutsche Ethikrat fordert mehr Patientenschutz und besser ausgebildet… | |
BERLIN taz | „Heute lernen wir die Sprache, aus der Gott das Leben | |
erschaffen hat“: Es waren feierliche Worte, die der damalige US-Präsident | |
Bill Clinton am 26. Juni 2000 in Washington fand. Soeben war es | |
Genforschern aus drei Erdteilen gelungen, das Humangenom – die Gesamtheit | |
der menschlichen Erbinformationen – weitgehend zu entziffern. Es folgten | |
Vergleiche mit der Erfindung des Rads, des Buchdrucks und mit der | |
Mondlandung. | |
Tatsächlich ging es um die Hoffnung, dank der neuen genetischen | |
Entschlüsselungsmethoden maßgeschneiderte Medikamente und neue Therapien | |
für unheilbare Krankheiten zu entwickeln. Krebs, Diabetes, | |
Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Fettleibigkeit würde man damit eines Tages | |
in den Griff kriegen. | |
Ein gutes Jahrzehnt später ist die Euphorie unter Wissenschaftlern | |
gedämpfter – jedenfalls wenn es um den unmittelbaren Nutzen für Patienten | |
geht, der sich derzeit aus der Flut verfügbarer genetischer Daten ziehen | |
ließe: „Information allein ist keine Erkenntnis“, warnt etwa Peter | |
Propping, einer der bekanntesten deutschen Humangenetiker und | |
Präsidiumsmitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. | |
## Angebote im Internet | |
Zugleich aber machen sinkende Kosten, schnellere Analysen und eine immer | |
breitere Verfügbarkeit von Angeboten im Internet Gentests für einen | |
zunehmend größeren Interessentenkreis zugänglich – unabhängig von ihrer | |
Aussagekraft. | |
Wie also einen verantwortlichen Umgang finden mit dem Recht auf genetisches | |
Wissen, auf Nichtwissen und auf informationelle Selbstbestimmung bei | |
Erwachsenen, Minderjährigen oder gar Ungeborenen? Das sind große Fragen, | |
die die Bundesregierung vor eineinhalb Jahren dem Deutschen Ethikrat | |
stellte. Die Antworten des Expertengremiums sind nachzulesen in einer | |
druckfrischen 209-seitigen Stellungnahme zur „Zukunft der Gendiagnostik“. | |
Die Ratsvorsitzende und Medizinethikerin Christiane Woopen fasste sie am | |
Dienstag in Berlin so zusammen: „Manche Daten sind für die medizinische | |
Versorgung sehr hilfreich, andere erbringen belastende Informationen ohne | |
Eingriffsmöglichkeit, und wieder andere sind von unklarer Relevanz.“ | |
## Beruf „genetischer Berater“ | |
Aus Sicht des Ethikrats müssen daher Verbraucherschutz und Patientenrechte | |
gestärkt und die Bevölkerung besser aufgeklärt werden. Hierzu brauche es | |
eine „öffentlich getragene, qualitätsgesicherte Informationsplattform“ im | |
Internet zu verfügbaren Gentests, ihrer Bedeutung und Aussagekraft. Ärzte, | |
die genetische Beratung anbieten, müssten besser aus- und fortgebildet | |
werden. Eventuell sollte der „genetische Berater“ als eigenständiger Beruf | |
eingeführt werden. | |
Nicht tolerierbar sei die derzeitige Praxis, wonach die Ergebnisse von | |
Gentests zu nichtmedizinischen Zwecken (also etwa zu Fitness- oder | |
Ernährungsberatung) auch ohne ärztliche Beratung übermittelt werden dürfen: | |
„Das Aushändigen schriftlichen Materials reicht nicht aus“, heißt es dazu | |
in der Stellungnahme, schließlich beinhalteten auch solche Tests | |
medizinisch relevante Informationen. Das Gendiagnostikgesetz müsse | |
entsprechend verschärft werden. | |
Der Ethikrat fordert auch, dass die Ärzte Überschussinformationen und | |
Nebenbefunde genetischer Diagnostik nicht in der Patientenakte | |
dokumentieren dürfen. Die Mediziner dürften auch nicht von sich aus | |
Verwandte ihrer Patienten informieren – selbst dann nicht, wenn das | |
Testergebnis, etwa im Fall von genetisch bedingtem Brust- oder Darmkrebs, | |
von unmittelbarer Relevanz für diese Drittpersonen sein könne. | |
## Minderjährige müssen stärker geschützt werden | |
Für Minderjährige, die noch nicht einwilligungsfähig seien, müsse ein noch | |
stärkerer Schutz in Bezug auf informationelle Selbstbestimmung gelten: | |
Generell dürften Gentests bei Kindern nur dann durchgeführt werden, wenn | |
sie ihrem „Wohl“ dienten, also etwa, um eine bereits bestehende oder mit | |
hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Erkrankung besser behandeln oder ihr | |
vorbeugen zu können. | |
Wegen der Gefahr des Missbrauchs und zum Schutz vor persönlichen Risiken | |
sollten sogenannte Direct-to-consumer-Tests (DTC), bei denen Verbraucher | |
oft nur eine Speichelprobe einschicken und sodann umfangreiche | |
Informationen erhalten, nicht nur in Deutschland, sondern EU-weit verboten | |
sein, findet der Ethikrat. Dies dürfte indes praktisch nur schwer | |
umzusetzen sein: Die Tests werden via Internet angeboten. | |
Zerstritten ist der Ethikrat in der Frage von Bluttests zur Früherkennung | |
des Downsyndroms bei Embryonen. Im Gegensatz zur herkömmlichen | |
Fruchtwasseruntersuchung bergen diese Tests kein Risiko für Fehlgeburten. | |
Genau das aber könne zu einem inflationären Gebrauch führen, warnt eine | |
Mehrheit der Mitglieder. Ihre Sorge: Schwangerschaften könnten dann | |
unzulässigerweise allein wegen der „genetischen Ausstattung des | |
Ungeborenen“ beendet werden. Dies sei umso leichter möglich, als der | |
Bluttest bereits in der zehnten Schwangerschaftswoche anwendbar sei. Zu | |
diesem Zeitpunkt dürfen Schwangerschaften auch ohne medizinische Indikation | |
beendet werden. | |
## Schutzkonzept erforderlich | |
Die Mehrheit der Mitglieder empfiehlt daher, solche Tests nur zu erlauben, | |
„wenn ein erhöhtes Risiko für eine genetisch bedingte Erkrankung oder | |
Fehlbildung vorliegt“. Zudem sei ein „über die Pflichtberatung nach §218a | |
Strafgesetzbuch hinausgehendes Schutzkonzept erforderlich“. Wie genau | |
dieses aussehen soll, lässt der Ethikrat offen. | |
Dieser Einschätzung widersprechen vehement acht Mitglieder des Ethikrats, | |
darunter der Rechtswissenschaftler Jochen Taupitz und der ehemalige | |
Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig: „Die ethische Analyse sollte | |
sich an der Lebenswirklichkeit von Menschen ausrichten“, fordern sie in | |
einem Sondervotum. | |
Es sei nicht akzeptabel, „der Schwangeren den Zugang zu wichtigen | |
Informationen zu erschweren, die sie als unentbehrlich für ihre | |
verantwortliche Entscheidung ansieht.“ Der Bluttest biete überdies keine | |
„prinzipiell neuartigen oder andersartigen diagnostischen Informationen“, | |
sondern bloß einen schonenderen Weg, an diese genetischen Informationen zu | |
kommen. | |
Sollte der Gesetzgeber den Empfehlungen der Mehrheit des Ethikrats dennoch | |
nachkommen, warnen die acht Kritiker, dann würde „das gesellschaftlich | |
breit akzeptierte Recht des Schwangerschaftsabbruchs verschärft“. | |
2 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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