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# taz.de -- Gendiagnostik, Brustkrebs und die Folgen: Eine Frage des Befunds
> Nadine Prahl hat das Brustkrebsgen BRCA geerbt und ließ sich die Brüste
> vorbeugend abnehmen. Nun streitet die Finanzbeamtin um die Kosten.
Bild: Sie will gesund bleiben: Nadine Prahl im September 2015.
Dieburg taz | In diesem Herbst hätte der zweite Teil der Operation erfolgen
sollen. Erst die Brüste, 2014 war das, dann dem Körper ein Jahr zugestehen
zur Heilung, und jetzt eben die Eierstöcke, so hatte Nadine Prahl es mit
ihren Ärzten besprochen. Medizinisch wäre dies sinnvoll gewesen,
organisatorisch sowieso: Im Herbst haben ihre Kinder, 4 und 8 Jahre alt,
Kindergarten- und Schulferien, ihr Mann kann problemlos Urlaub nehmen, und
Nadine Prahl hätte den Eingriff hinter sich bringen und Ruhe finden können.
Mit sich selbst. Mit einem Leben, in dem die Angst vor dem Krebs seit vier
Jahren präsent ist, alles wegen BRCA-2, dieses defekten Gens in ihrem
Körper.
Hätte.
„Anfangs dachte ich, es ist bloß ein Missverständnis“, sagt Nadine Prahl.
Sie sitzt im Wohnzimmer ihres Einfamilienhauses in Dieburg, einer
Kleinstadt nahe Darmstadt. Es ist ein Sonntag im September, Nadine Prahl
trägt Jeans und T-Shirt. Dieses Jahr ist sie 40 geworden. Das Finanzamt, in
dem sie wochentags Vorgänge prüft und Bescheide erteilt, liegt einen
Steinwurf entfernt; wenn eine rechnen kann, dann sie, die Beamtin: „Es kann
doch nicht sein, dass die mich ernsthaft erst in die Krankheit schicken
wollen, bevor sie eine Therapie bezahlen.“
## Risiko von 90 Prozent
Auf den Kosten für ihre beidseitige Brust-OP im vergangenen Jahr, 13.000
Euro insgesamt, ist sie zu 60 Prozent sitzen geblieben. Für die Entfernung
der Eierstöcke, zu der die Ärzte ebenfalls raten, fehlt ihr das Geld.
BRCA-2 heißt das defekte Gen, das Nadine Prahl von ihrer Mutter geerbt hat.
Ihre Ärzte sagen, dass es ihr ein lebenslanges Risiko, an Brustkrebs zu
erkranken, von 90 Prozent eingebracht hat. Bei der US-Schauspielerin
Angelina Jolie, die sich wegen BRCA vorsichtshalber beide Brüste abnehmen
und später auch die Eierstöcke entfernen ließ, lag das Risiko zu erkranken
bei 87 Prozent. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit in der Normalbevölkerung
liegt bei 10 Prozent.
Als Faustformel gilt: Frauen mit mutiertem BRCA-Gen, die sich vorbeugend
einer Mastektomie unterziehen, also das komplette Brustdrüsengewebe
entfernen lassen, senken ihr Erkrankungsrisiko auf unter 2 Prozent. „Das
war auch für mich der Grund für die Operation“, sagt Nadine Prahl.
Doch die Beihilfe des Landes Hessen, die zusammen mit der privaten
Krankenversicherung die medizinische Versorgung von Landesbeamtinnen
erstattet, weigert sich zu zahlen. Weil „allein das Vorhandensein einer
bestimmten genetischen Disposition“ noch keine Krankheit darstelle,
jedenfalls nicht „im beihilferechtlichen Sinne“. So argumentiert das
Regierungspräsidium Kassel, inzwischen in zweiter Instanz im
„Verwaltungsstreitverfahren Nadine Prahl gegen das Land Hessen“: „Die
Körperfunktion wird durch das Vorhandensein dieses Gens nicht
beeinträchtigt“, schreibt das Regierungspräsidium im August 2015 an den
Hessischen Verwaltungsgerichtshof.
Weder Beihilfe noch Regierungspräsidium hätten verstanden, worum es hier
geht, sagt Nadine Prahl: „Um mein Leben. Und darum, dass die Kosten, es zu
retten, sich sogar noch potenzieren werden, sollte ich den Krebs bekommen.“
## Mutter und Tante sind betroffen
Was das heißt, kann die Frau erzählen, die die Krankheit durchmachen
musste: Roswitha Kubicki, 60 Jahre, Nadine Prahls Mutter. „Ich“, sagt sie
im Wohnzimmer in Dieburg, „war 49, als ich den Knoten in meiner rechten
Brust entdeckt habe.“
Sie ist zu Besuch an diesem Sonntag; sie will ihre Tochter unterstützen,
Öffentlichkeit herzustellen für den zermürbenden Streit um die Kosten für
einen Eingriff, dem keine Erkrankung zugrunde liegt, sondern ein Risiko,
eine Prognose. Für Krankenversicherungen sind dies ebenso schwer
kalkulierbare wie überprüfbare Parameter. In ihrer leistungsrechtlichen
Logik kommen sie nicht vor.
„Die Mastektomie stellt grundsätzlich keine medizinisch notwendige
Heilbehandlung dar“, teilt der Verband der Privaten Krankenversicherung
mit. Falls die Kosten dennoch übernommen würden, „dann ist das eine
Kulanzleistung“. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen
schreibt, „dass es sich um Einzelfallentscheidungen der einzelnen
Krankenkasse handelt“. Das Regierungspräsidium Kassel will derzeit keine
Stellungnahme zu dem Fall abgeben.
Als Roswitha Kubicki 2004 an Brustkrebs erkrankte, wussten die Ärzte über
ihren Tumor nur, dass er aggressiv war. Er hatte 13 Lymphknoten befallen;
beizukommen war ihm mit Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung und fünf
Jahren Anti-Hormon-Tabletten. Sowie lebenslänglicher Kontrolle: Alle zwölf
Monate muss Roswitha Kubicki zur Kernspintomografie, alle sechs Monate zur
Mammografie und alle drei Monate zu weiteren gynäkologischen
Untersuchungen. „Es hört nicht auf“, sagt sie.
## Man weiß heute viel mehr
Und schon gar nicht hörte es auf, als Jahre später, 2010, ihre Frauenärztin
hellhörig wurde; das Verstehen von Krebs hatte zuvor gewaltige Fortschritte
gemacht. Roswitha Kubicki: Brustkrebs mit 49. Ihre ein Jahr jüngere
Schwester: Brustkrebs, ebenfalls mit 49. Ihre Mutter: verstorben an
Eierstockkrebs – mit 68. Und dann waren da Roswitha Kubickis Töchter,
Nadine Prahl und ihre 11 Jahre jüngere Schwester, ohne Befund, bislang.
„Wir haben dann beraten, ob wir uns auf BRCA testen lassen“, sagt Nadine
Prahl. „Es ist wichtig, sich vorher zu überlegen, wie man mit dem Ergebnis
umgehen wird und was daraus folgt.“ Erst mit den modernen, präzisen
Vorhersagemöglichkeiten der genetischen Diagnostik sind vorbeugende
Operationen überhaupt als Therapie-Option ins Bewusstsein von Patientinnen
und Ärzten gerückt. Die klassische Definition von Krankheit, wonach ein
krankhafter Befund vorliegen muss, um einen Eingriff zu rechtfertigen,
gerät ins Wanken. Sozialpolitiker wie Krankenkassenchefs scheuen eine
begriffliche Anpassung auch deswegen, weil die heikle Frage, die über allem
steht, unabsehbare Folgen für das Leistungsrecht hätte: Wollen wir künftig
statt Krankheiten Risiken behandeln?
Im Spätherbst 2011 ergeben die Gentests: Alle drei Frauen tragen das
Brustkrebsgen. Roswitha Kubicki lässt sich ihre gesunde linke Brust und die
Eierstöcke entfernen. Weil sie bereits Brustkrebs hatte, trägt ihre
gesetzliche Krankenkasse die Kosten. Ihre jüngere Tochter, heute 29,
beschließt, schwanger zu werden und die Operationen auf später zu
verschieben. Nadine Prahl bittet Kliniken um Kostenvoranschläge. Bei ihrer
privaten Krankenversicherung und der Beihilfestelle beantragt sie
Erstattung. „Ich habe Verantwortung für zwei Kinder. Ich konnte mir nicht
vorstellen, dass ich abwarte, bis ich krank werde.“
Sobald Frauen in Deutschland positiv auf BRCA getestet werden, wird ihnen
eine engmaschige Kontrolle in Brustkrebszentren empfohlen. Alle paar Monate
fuhr Nadine Prahl ab Ende 2011 deswegen nach Heidelberg. Gesunde und Kranke
teilten ein Wartezimmer. „Da waren diese vielen jungen Frauen, von der
Krankheit gezeichnet, und draußen auf der Wiese standen ihre Männer, kleine
Kinder an der Hand, und pflückten Blumen.“ Sie weint.
## Ein Etappensieg
Im Oktober 2014, mitten im laufenden Rechtsstreit mit der Beihilfe, lässt
sie sich beide Brüste abnehmen und mit Silikon rekonstruieren: „Ich konnte
nicht mehr. Ich wollte diese ständige Angst nicht mehr, dass die Ärzte bei
der nächsten Untersuchung vielleicht doch etwas finden.“ Ihre private
Krankenkasse zahlt 40 Prozent, die Beihilfe nichts.
Im Mai 2015 dann die Erleichterung. Das Verwaltungsgericht Darmstadt
urteilt: „Das beklagte Land wird verpflichtet, die im Rahmen der
durchgeführten prophylaktischen Brustoperation entstandenen Kosten als
beihilfefähig anzuerkennen.“ Zwar könne Nadine Prahl ihren Anspruch „nicht
auf die Vorschriften der Hessischen Beihilfenverordnung stützen“, erklärt
das Gericht. Die Erstattung gebiete jedoch „die verfassungsrechtliche
Fürsorgepflicht“ ihres Arbeitgebers: „Bedeutsam ist (…), dass (…) eine
Beamtin, der Fürsorge zu gewähren der Dienstherr (…) verpflichtet ist, vor
der Entscheidung steht, ob sie dem (…) Ausbruch der Krebserkrankung
tatenlos entgegenblickt oder aber sich für eine Operation entscheidet.“
Es ist ein Etappensieg. Im Sommer 2015 geht das Regierungspräsidium Kassel
in Berufung. Von der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs,
vielleicht bald, hängt nicht nur ab, wie schnell Nadine Prahl es sich wird
leisten können, auch die Eierstöcke operieren zu lassen. Es geht auch um
die grundsätzliche Klärung, welchen Rechtsanspruch Frauen haben sollen, die
mit einem genetisch bedingten Brustkrebsrisiko leben. Experten gehen davon
aus, dass 5 bis 10 Prozent der jährlichen rund 70.000
Brustkrebserkrankungen in Deutschland auf eine familiäre Veranlagung
zurückgehen. Was, wenn sie alle operiert werden wollen?
Das BRCA-Netzwerk in Königswinter registriert zunehmend Fälle von Frauen,
die wegen der Mastektomie mit ihren Versicherungen streiten. Kürzlich
versagten gesetzliche Krankenkassen die Operationskosten sogar zwei Frauen,
bei denen der Krebs bereits diagnostiziert war. Einer anderen Patientin
wurde die Rekonstruktion der Brustwarze nicht finanziert mit der
Begründung, dies sei Kosmetik. Eine weitere Krebskranke bekam erst nach
zähem Ringen die Operation finanziert, obwohl diese – wegen vorheriger
Bestrahlung – auch medizinisch begründet war. Eine Versicherte aus Bayern
musste ihrer Beihilfestelle ein amtsärztliches Zeugnis beibringen, um „eine
Einzelfallentscheidung ohne Bindung einer Rechtspflicht“ herbeizuführen.
Nadine Prahl sagt: „Man darf das nicht persönlich nehmen. Sonst wird man
wirklich krank.“
27 Sep 2015
## AUTOREN
Heike Haarhoff
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