| # taz.de -- Jugendgewalt in Deutschland: „Toleranz hat sich verändert“ | |
| > In der öffentlichen Wahrnehmung werden Jugendliche immer brutaler. Der | |
| > Kriminologe Gerhard Spiess rückt das Bild im Gespräch mit der taz | |
| > zurecht. | |
| Bild: Symbole der Trauer um Jonny K. auf dem Alexanderplatz, Berlin. | |
| taz: Herr Spiess, mit dem Prozessauftakt im Fall Jonny K. wird die Debatte | |
| über Jugendgewalt erneut angestoßen. Wird die Jugend in Deutschland immer | |
| brutaler? | |
| Gerhard Spiess: Den Eindruck kann man anhand der Medienberichterstattung | |
| gewinnen. | |
| Ist dem nicht so? | |
| Wenn wir die verfügbaren Datenquellen heranziehen, dann sehen wir zwar, | |
| dass langjährig in der polizeilichen Kriminalstatistik bundesweit bis 2008 | |
| die Zahlen für Gewaltdelikte von jugendlichen Tatverdächtigen stark | |
| zugenommen haben. Nach 2008 sind die allerdings auch wieder rückläufig. | |
| Wie bewerten Sie das? | |
| Die Abnahme der absoluten Zahlen hat vor allem etwas mit der | |
| demografhischen Entwicklung zu tun. Aber auch der Grund für den | |
| langjährigen Anstieg in der Polizeistatistik liegt nach unseren | |
| Erkenntnissen nicht darin, dass es vermehrt zu gravierenden Gewaltdelikten | |
| gekommen ist, sondern darin, dass sich vor allem das Anzeigeverhalten | |
| verändert hat. | |
| Wie kommen Sie darauf? | |
| Die Polizeistatistik ist nur ein Teil der Wahrheit. Wir wissen unabhängig | |
| von der polizeilichen Statistik – also aus Dunkelfeldbefragungen, | |
| Verurteilungen, Bevölkerungsstichproben oder gezielten Schülerbefragungen | |
| –, dass es keine Anzeichen einer Zunahme gibt, sondern im Gegenteil eher | |
| eine leichte Abnahme stattgefunden hat. Auch die Daten der gesetzlichen | |
| Schülerunfallversicherung legen diese Entwicklung nahe: Gemeldete | |
| Raufunfälle mit behandlungsbedürftigen Verletzungen sind rückläufig. | |
| Warum hat sich das Anzeigeverhalten geändert? | |
| Die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Gewalt hat sich einfach verändert. | |
| Es gibt eine stärkere Sensibilisierung. Und Jugendgewalt findet meist im | |
| öffentlichen Raum statt und wird damit besser wahrgenommen. | |
| Der Fall des getöteten Jonny K. hat ja in Berlin stattgefunden. Die Zahl | |
| der Tötungsdelikte ist dort 2012 erneut gestiegen. Ist Berlin besonders | |
| verroht? | |
| Da gibt es von Jahr zu Jahr starke Schwankungen. Es gab zwar in den letzten | |
| zwei Jahren eine Zunahme, aber der langjährige Trend zeigt auch in Berlin | |
| keine signifikante Zunahme, sondern entspricht in etwa dem, was wir auch | |
| aus anderen Großstädten kennen. Wenn wir bundesweit die Zahlen der | |
| Tötungsdelikte seit den 1970er Jahren anschauen, hat die Zahl deutlich | |
| abgenommen. Das überrascht die meisten. | |
| Wer sind die Opfer? | |
| Solche Gewaltvorfälle spielen sich meist in derselben Alters- und | |
| Sozialgruppe ab. | |
| Und es sind meist männliche Täter … | |
| Das ist kein neues Phänomen. Besonders in der Gewaltdelinquenz sind | |
| männliche Täter schon immer viel häufiger in Erscheinung getreten. | |
| Schwieriger ist die Debatte, wie es sich um Täter mit Migrationshintergrund | |
| verhält. Die sind prozentual häufiger straffällig. | |
| Es gab verschiedene Untersuchungen speziell zu Tätern mit und ohne | |
| Migrationshintergrund. Das Ergebnis: Es gibt eine höhere Gewaltbereitschaft | |
| unter Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, wenn bestimmte | |
| Risikomerkmale gehäuft auftreten. | |
| Die wären? | |
| Beispielsweise mangelnder Erfolg in unserem Bildungssystem, Armut, | |
| gewalttätige Erziehungspraktiken in der Familie. Treten diese Faktoren | |
| gemeinsam auf, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass der Jugendliche | |
| gewalttätig in Erscheinung tritt – unabhängig davon, ob er deutscher oder | |
| nichtdeutscher Herkunft ist. | |
| Ist es Ihrer Meinung nach richtig, die Ethnie in Gewaltstatistiken | |
| anzuführen? | |
| Dass diese Zahlen offengelegt werden, ist durchaus vernünftig. Es soll | |
| nicht der Eindruck erweckt werden, dass etwas vertuscht wird. Aber man muss | |
| präzise untersuchen, was sich genau mit dem Merkmal Migrationshintergrund | |
| verbindet. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft, damit können bei | |
| der Einschulung Sprachprobleme auftreten. Es gibt jedenfalls keinen Anlass, | |
| Ausländer oder Jugendliche mit Migrationshintergrund als Ursache des | |
| Problems zu sehen. | |
| ## Gerhard Spiess arbeitet als Kriminologe und Soziologe am Fachbereich | |
| Rechtswissenschaft der Universiät Konstanz. Der 63-Jährige beschäftigt sich | |
| seit Jahren mit dem Thema Jugendkriminalität | |
| 14 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jasmin Kalarickal | |
| Jasmin Kalarickal | |
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