# taz.de -- Doku über die „36 Boys“: Mit Fäusten gegen Diskriminierung | |
> Die TV-Dokumentation „Die Kings von Kreuzberg“ bietet einen spannende | |
> Einblick in das Leben einer migrantischen Gang, das vor Machotum nur so | |
> strotzt. | |
Bild: Kreuzberg der 90er war das Revier vieler Jugendgangs, die in der RBB-Doku… | |
BERLIN taz | Was aus dem Kreuzberg der 80er und 90er Jahre geworden ist, | |
kann man jeden Tag auf der Straße sehen – viel ist davon nicht übrig. So | |
hat das Haus von Senol Kayaci, in dem er mit seinen fünf Geschwistern | |
wohnte, heute kein Außenklo mehr, verfügt im Gegensatz zu damals über | |
Warmwasser und ist hübsch angemalt. Dafür kann es sich auch kaum noch eine | |
Großfamilie leisten. Was aus Menschen wie Kayaci geworden ist, die damals | |
die Straßen „des härtesten Kiez Westberlins“ beherrschten, kann man in der | |
neuen RBB-Doku „Die Kings von Kreuzberg“ sehen, in der vier ehemalige | |
Mitglieder der berühmt-berüchtigten „36 Boys“ zu Wort kommen. | |
30 Minuten dauert der spannende Einblick in das Leben der migrantischen | |
Kreuzberger Gang, das vor Machotum nur so strotzt: gewaltsame | |
Initiationsrituale, Revierkämpfe mit anderen Gangs, Überfälle (allerdings | |
laut Ehrenkodex nicht auf ältere Menschen), aber auch Treffen mit [1][der | |
Antifa Gençlik], um sich gegen die zunehmenden rassistischen Übergriffe zu | |
wehren. In den Medien wurden die 36 Boys vor allem als gewalttätig und | |
kriminell dargestellt. Für die Mitglieder selbst, viele von ihnen Kinder | |
von sogenannten Gastarbeiter*innen aus der Türkei, ging es aber vor | |
allem darum, sich selbstbewusst ihren Platz in der Gesellschaft zu | |
erkämpfen. | |
„Das war die erste Generation von Migranten, die gesagt hat: Ey Leute, wir | |
sind auch noch da, und so wie es aussieht, werden wir hier auch bleiben, am | |
besten ihr freundet euch damit an“, sagt Kayaci, der wegen schwerer | |
Körperverletzung und räuberischer Erpressung im Gefängnis war. Auf alten | |
TV-Aufnahmen sieht man den heute 48-Jährigen, wie er mit 15 Wände besprüht | |
und sich über die Rechtsextremen aus dem Osten lustig macht. „Hier ist der | |
migrantische Widerstand gegen Nazis entstanden“, sagt er heute stolz. | |
Was die Männer eint, die so freimütig über ihre kriminelle Vergangenheit | |
berichten, war der Wunsch, aus der Opferrolle herauszukommen. Auf die | |
Gewalt von Familie, Gesellschaft und Staat reagierten die jungen Männer | |
ihrerseits mit Gewalt. Auch der heutige Sterne-Koch und Fernseh-Promi Tim | |
Raue war Mitglied der 36 Boys. Selbst Opfer familiärer Gewalt und | |
armutsbetroffen, fand er in der Gang eine neue Familie: „Auf der Straße gab | |
es Jugendliche, die auch gedemütigt wurden von diesem Staat, die nicht | |
akzeptiert wurden, nicht integriert wurden, denen nicht zugehört wurde“, | |
sagt Raue. „Wir waren für ganz unten vorgesehen, wir waren die Crew, die | |
sich in die Mitte geboxt hat“, sagt Kayaci. | |
## Als hätte sich nichts getan | |
Doch bis dahin war es ein langer Weg. „Das wurde so kriminalisiert, als | |
wären die Leute Terroristen“, erinnert sich Neco Celik, einer der Gründer | |
der Gang, der heute Theaterstücke und Filme macht. „Das waren Jugendliche, | |
die Mist gebaut haben, selbstverständlich.“ | |
Migrantische Jugendliche aus armen Familien, vom Bildungssystem an den Rand | |
gedrängt, vom Staat schikaniert und von der Gesellschaft ausgeschlossen, | |
deren Wut über diese Verhältnisse sich in gewaltsamen Aktion entlädt – | |
vieles kommt einem noch heute allzu bekannt vor, als hätte sich in den | |
vergangenen 40 Jahren in diesem Bereich nichts getan. Außer dass der | |
Brennpunkt heute Neukölln und nicht mehr Kreuzberg heißt. | |
Statt [2][Jugendgewalt nur zu verdammen,] zeigen die Macherinnen Carmen | |
Gräf und Susanne Heim, was es wirklich braucht: Hört den Leuten zu und | |
nehmt sie ernst. Es lohnt sich. 30 Minuten reichen dafür natürlich bei | |
Weitem nicht aus. Bleibt zu hoffen, dass der ehemalige 36er Neco Celik sein | |
Versprechen wirklich ernst macht, die Geschichte der Migranten-Gang eines | |
Tages zu verfilmen. Und wer weiß, vielleicht regt die Doku ja doch den | |
einen oder die andere Politiker*in dazu an, marginalisierten Personen | |
endlich einmal zuzuhören. Damit es keine Gewalt mehr braucht, damit sie | |
sich Gehör verschaffen. | |
Die Dokumentation „[3][Die Kings von Kreuzberg“] aus der Reihe „Unser | |
Leben“ ist auf den Seiten des RBB abrufbar. | |
9 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Archiv-fuer-Antirassismus/!5843634 | |
[2] /Jugendgewalt-im-Schwimmbad/!5945079 | |
[3] https://www.rbb-online.de/unserleben/reportagen/die-kings-von-kreuzberg.html | |
## AUTOREN | |
Marie Frank | |
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