| # taz.de -- Theaterformen mit Kinshasa Connection: Im Mahlstrom der Geschichte | |
| > Das Festival Theaterformen in Hannover zeigt in seiner 14. Ausgabe | |
| > eindrucksvolle Koproduktionen aus dem Kongo – auf der Bühne und auf der | |
| > Leinwand | |
| Bild: Aufführung von Dieudonné Niangounas „Le fin de la légende“ in Kins… | |
| „Ich bin Kongolese und kenne die Geschichte von Deutschland, Frankreich, | |
| Belgien“, erzählt die Stimme auf dem Audioguide, „aber nichts habe ich in | |
| der Schule in Kinshasa über den Kongo gelernt.“ Die Stimme ist Teil der | |
| „Congo Connection“, einer Installation in der völkerkundlichen Abteilung | |
| des Landesmuseums in Hannover, für die sechs Hannoveraner kongolesischer | |
| Herkunft aus ihrer eigenen Geschichte erzählen, aus der ihrer Eltern und | |
| Großeltern und der ihres Landes. | |
| Andreas Kebelmann und Anja Mayer, die gemeinsam die Agentur Kriwomasow | |
| bilden, haben die Interviews gemacht und zusammen mit einer Zeitleiste über | |
| die koloniale Eroberung des Kongos und die Ausbeutung seiner Bodenschätze | |
| bis in die Gegenwart in das Museum gebracht. | |
| „Congo Connection“ ist Teil des Festivals Theaterformen in Hannover (bis | |
| 30. Juni), das diesmal den Kongo als Schwerpunkt an den Beginn setzte. Die | |
| Collage der Interviews zu hören lohnt sich, denn sie übersetzen die Daten | |
| der Zeitleiste in viele einzelne Geschichten und Perspektiven. Das Konzept, | |
| dies alles zwischen den Vitrinen mit Artefakten aus Afrika, Südamerika oder | |
| Indonesien zu hören, geht allerdings nicht ganz auf. | |
| ## Kritische Perspektive auf die völkerkundliche Ordnung | |
| Zwar ahnt man die Absicht, die völkerkundliche Ordnung als Bestandteil der | |
| kolonialen Vergangenheit mit einer kritischen Perspektive zu überschreiben, | |
| doch Hör- und Lesetexte erfordern so viel Aufmerksamkeit, dass für die | |
| visuelle Sprache der Skulpturen und Objekte nichts mehr übrigbleibt. | |
| So werden sie wieder funktionalisiert, diesmal als Beutestücke der am | |
| Gewinn der Kolonialzeit Beteiligten, und anders kaum zum Sprechen gebracht. | |
| Die Wiederaneignung einer verlorenen Vergangenheit, ihre Rekonstruktion als | |
| Baustein der Identität, sie ist so einfach nicht. | |
| Wie kann man eine kongolesische Geschichte erzählen, wenn niemand mehr vom | |
| Elend und Leid, von Kriegen und Krisen hören will, fragt sich Faustin | |
| Linyekula zu Beginn seines Tanzstücks „Drums and Digging“. Die Sprachen des | |
| Stücks sind Lingala, Swahili und Französisch, teils mit deutschen | |
| Untertiteln, teils von einer lautmalerischen Expressivität, die auch ohne | |
| wörtliche Übersetzung die Emotionen transportiert. | |
| Uraufgeführt wurde „Drums and Digging“ Mitte Juni in Kinshasa, beim | |
| Festival Connéxion Kin. Linyekula, dessen Stück noch in Avignon, Berlin und | |
| Zürich zu sehen sein wird, ist gefragt auf Europas Festivalbühnen. | |
| ## Erzählungen vom Dorf der Kindheit | |
| 2001 gründete er in Kinshasa die Studios Kabako, die seit 2006 in Kisangani | |
| arbeiten. In „Drums and Digging“ sitzt der 39-Jährige selbst am Rand der | |
| Bühne und erzählt von seinem Versuch, das Dorf seiner Kindheit | |
| wiederzufinden. Das Stück, das er mit Schauspielern und Tänzern entwickelt | |
| hat, gilt der Bestürzung und der Trauer im Blick auf die jüngste | |
| Vergangenheit, die Verwüstungen der eigenen Kultur. | |
| Voll Zorn, grimmig, boshaft, knurrend, fauchend und bitter lachend | |
| wiederholt ein Tänzer den Satz „Es war einmal ein Traum“. Er krümmt sich … | |
| diesen Satz hinein, der ein fernes Echo an Reden von Martin Luther King | |
| oder Muhammad Ali anklingen lässt, er spuckt ihn aus, das hat etwas von | |
| einem Exorzismus. | |
| Ein anderer Traum wird erzählt wie eine Komödie, ein Traum von | |
| Joseph-Désiré Mobutu, legendärer Diktator des Kongo, der sich und seine | |
| Familie bereicherte und eine Kleinstadt zum „Versailles des Dschungels“ | |
| ausbaute. Die Träume sind besetzt, korrumpiert und damit selbst die | |
| Ressource der Vorstellungskraft gebrochen. | |
| Eine der Schauspielerinnen, Véronique Aka Kwabeda, stammt aus der Familie | |
| von Mobutu und erinnert sich, wie fasziniert sie als Kind von dessen Gärten | |
| und Palästen war. Sie entrollt eine lange Kette von Namen, den | |
| Familienstammbaum, während die anderen Tänzer und Schauspieler ein | |
| komplexes Geflecht von Linien mit ihren Schritten auf dem Boden markieren, | |
| wie die tief in die Vergangenheit treibenden Wurzeln des Baums. | |
| ## Immer wiederholte Wehklage | |
| Dann aber stürzt Véronique Aka Kwabeda in eine Wehklage, wieder und wieder | |
| die Worte „Was ist hier passiert, hier ist nichts mehr“ wiederholend. Ihre | |
| Sprache vibriert vor Empörung, Anklage, Schrecken und Scham, sie klingt | |
| vorwurfsvoll und ratlos. | |
| Aber in diese Tirade hinein setzt Faustin Linyekula einen vorsichtigen | |
| Tanz, langsam lässt er eine Bewegung zwischen seinen Handwurzeln | |
| aufsteigen, zeichnet in die Schleifen ihrer Stimme, die wieder und wieder | |
| gegen eine Wand zu rennen scheint, weiche Bögen hinein. | |
| An solchen Transformationen zwischen Erzählfragmenten, Sprachmelodien, | |
| Emotionen und Bewegungen ist „Drums and Digging“ reich. Die tänzerischen | |
| Elemente sind dabei reduziert, wie etwa ein Ablaufen von Wegen, die an eine | |
| Landkarte erinnern, mit kleinen Schritten, gesenktem Kopf, eine gebückte | |
| und bedrückte Haltung. | |
| ## Kultureller Reichtum an eigenen Tanztechniken | |
| Manchmal entstehen Bewegungen im Kreis, aus Stille und Verhaltenheit wird | |
| langsam ein ekstatischer Tanz. Der kulturelle Reichtum an eigenen | |
| Tanztechniken und Ritualen klingt an, aber wie ein isoliertes Fragment, das | |
| keine Verbindung mehr zur Gemeinschaft herstellen kann. Am Ende zitiert | |
| Linyekula einen chinesischen Dichter: „Wenn die Hoffnung tot ist, ist das | |
| Lied nutzlos geworden.“ | |
| Noch zwei weitere Produktionen des Festivals Theaterformen, „La fin de la | |
| Légende“ von Dieudonné Niangouna aus Brazzaville und „In Case of Fire, Run | |
| for the Elevator“ von Boyzie Cekwana aus Südafrika, haben ihre Uraufführung | |
| zuvor in Kinshasa erlebt. Denn das Festival Theaterformen ist in diesem | |
| Jahr als Partner und Koproduzent von Connéction Kin in Kinshasa | |
| eingestiegen. | |
| Möglich wurde das mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes. Was alle | |
| drei Produktionen miteinander verbindet, ist ein selbstkritischer Blick auf | |
| die Arbeit an einer afrikanischen Identität, auf die Sehnsucht nach Stärke, | |
| nach demonstrativen Gesten der Macht. | |
| ## Parforceritt durch die europäische Dramatik | |
| Die Theaterformen in Hannover, die Anja Dirks inzwischen seit fünf Jahren | |
| leitet, sind nicht das einzige Festival mit einem Afrika-Schwerpunkt. In | |
| Avignon ist dieses Jahr Dieudonné Niangouna als künstlerischer Kodirektor | |
| eingeladen. Seine Gruppe heißt „Les Bruits de la Rue“ auch schon deshalb, | |
| weil sie auf der Straße spielen müssen, da die Bürgerkriege der neunziger | |
| Jahre in der Republik Kongo auch Kultureinrichtungen und Clubs zerstört | |
| haben. | |
| Straßentheater also, denkt man und rechnet dann nicht mit einem | |
| Parforceritt durch Texte der europäischen Dramatik, von Heiner Müller, | |
| Bernard-Marie Koltès und Sarah Kane. Sie werden als Monologe vorgetragen, | |
| in einem klangvollen, musikalisch reichen Französisch und gerahmt von einer | |
| Körpersprache der Zombies und der sexuellen Gier. Das Obszöne und das | |
| Gewalttätige, die Berauschung am Exzess, liegen eng beieinander in den | |
| Texten und in den Aktionen der Schauspieler. Von Kulturpessimismus ist das | |
| eine wie das andere durchzogen. | |
| Man kann hier nicht mehr auseinanderdividieren, was sich auf Afrika, was | |
| sich auf Europa bezieht in diesem Mahlstrom der Geschichte. | |
| „Alles in der afrikanischen Kultur dreht sich um Unterwerfung.“ Dieser Satz | |
| hallt nach in dem Stück „La Fin de la Légende“. Er stammt von einer jungen | |
| Boxerin in dem Film „Victoire Terminus, Kinshasa“, der in einer die | |
| Theaterformen begleitenden Reihe von sieben Filmen aus Kinshasa am ersten | |
| Festivalwochenende lief. | |
| ## Puzzelsteine fallen einer neben den anderen | |
| Die junge Frau bringt hier ihre Erfahrungen aus Beziehungen und aus dem | |
| Blick auf die Machthaber des Landes auf den Punkt, um fortzufahren, aber | |
| „Unterwerfung hat Grenzen“. Das ist einer der Gründe, der sie zum Boxen | |
| brachte, aber auch die Hoffnung, anders als mit Prostitution genügend zum | |
| Überleben verdienen zu können. Ob das gelingen kann, bleibt in dem Film von | |
| Renaud Barret und Florent de la Tullaye offen. | |
| Pendelnd zwischen Filmen und Stücken stellte sich so auf dem Festival das | |
| Gefühl ein, dass ein Puzzlesteinchen neben das andere fällt. Ein Film, | |
| „Blood in the Mobile“ von Frank Piasecki Poulsen, beschäftigt sich mit den | |
| schlechten und gefährlichen Arbeitsbedingungen im Abbau von Coltan, und das | |
| zu thematisieren ist auch ein Anliegen von Douglas Ngoma, der inzwischen in | |
| Hannover lebt und zu den Interviewten der „Congo Connection“ gehört. | |
| Er hat darüber einen Song geschrieben, den er mit seiner Band beim Fête de | |
| la Musique auf der Bühne hinter dem Schauspielhaus spielte. Es war nicht | |
| zuletzt diese Verzweigung in die Stadt hinein, die der Kinshasa Connection | |
| des Festivals so Hand und Fuß gab. | |
| 25 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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