| # taz.de -- Festival: Mit dem Ungewissen spielen | |
| > Die zwölfte Ausgabe des Kinder- und Jugendtheater-Treffens „Augenblick | |
| > Mal!“ überrascht mit dokumentarischen und tänzerischen Ansätzen. | |
| Bild: In der Disziplinierungsanstalt: „The Blue Boy“, schmerzvolles Theater… | |
| Ein Zeigefinger kann sehr streng aussehen. Zeigefinger stechen unerbittlich | |
| in die Luft in „The Blue Boy“, einem Stück Tanz- und Dokumentartheater aus | |
| Irland. Grau und steif sind die Anzüge der Tänzer, ihre Gesichter hinter | |
| erstarrten Kindermasken verborgen. Sie sitzen am Tisch, ihre Hände fahren | |
| synchron an den Hals in einer würgenden Geste, dann falten sie sich zum | |
| Beten, wischen über den Tisch, Köpfe schlagen auf die Tischplatte. Es ist | |
| ein gnadenloses und trauriges Szenario einer Disziplinierungsanstalt, die | |
| keinen Funken Individualität duldet, das die Gruppe Brokentalkers aus | |
| Dublin in „The Blue Boy“ aufführt. | |
| Das Gastspiel aus Irland wird zweimal aufgeführt im Rahmen von „Augenblick | |
| Mal!“, ein Festival des Theaters für junges Publikum. „The Blue Boy“ ist | |
| ein außergewöhnliches Stück. Es verbindet dokumentarisches Material und | |
| Erzählungen über den qualvollen Alltag in einem katholischen Kinderheim in | |
| Irland mit Tanzsequenzen, die die Einsamkeit der Kinder, ihren Schmerz und | |
| ihre Abstumpfung in exakte und knappe Bilder übersetzen. | |
| ## Kluge Konstruktion | |
| Aus den Texten erfährt man erst langsam, wovon das Stück handelt. 2011 kam | |
| in Irland der „Ryan Report“ heraus, der das Schicksal von zahlreichen | |
| vernachlässigten und missbrauchten Kindern aus den Heimen öffentlich | |
| machte. Die Stimmen, die man im Stück hört, sind oft die von Betroffenen, | |
| die erst nach Jahren darüber reden konnten, oder von Zeitzeugen, die nicht | |
| glauben wollten, was sie ahnten. In seiner klugen Konstruktion wandert das | |
| Stück der Brokentalkers durch die verschiedenen Schichten von Schweigen, | |
| Verdrängen, Erschrecken, Erkennen. | |
| Das Festival „Augenblick Mal!“ findet zum 12. Mal in Berlin statt. Zehn | |
| Inszenierungen aus Deutschland und drei internationale Gastspiele werden | |
| bis zum 28. April im Theater an der Parkaue, in den beiden | |
| Grips-Spielstätten Hansaplatz und Podewil und in der Tischlerei der | |
| Deutschen Oper gezeigt. Was die Stücke aus Irland und Kroatien mit | |
| Produktionen aus Münster, Berlin, Hamburg, Bremen und Stuttgart dieses Jahr | |
| verbindet, ist die Aufgeschlossenheit gegenüber Tanz, Mehrsprachigkeit, | |
| dokumentarischen Strecken und biografischen Recherchen. | |
| Das alles, sagt Helmut Wenderoth, der Sprecher der sechs Kuratoren des | |
| Festivals und einer der künstlerischen Leiter des Jugendtheaters Kresch in | |
| Krefeld, sei in den letzten Jahres erst allmählich im Jugendtheater | |
| angekommen. Tanz als Mittel der Selbsterkundung und Improvisationen als | |
| Instrument, Profis und Laien zusammenzubringen, hat zum Beispiel für zwei | |
| Produktionen aus Stuttgart („9 Leben“) und aus Münster („Young & Furious… | |
| eine große Rolle gespielt. In Münster haben der Choreograf Samir Akika und | |
| der Regisseur Johannes Fundermann mit acht jungen Leuten aus Belgien und | |
| Deutschland eine Szenenfolge entwickelt, die mit dem Unfertigen und | |
| Ungewissen umgeht. Songs werden zitiert, na klar, aber auch politische | |
| Debatten und private Dramen in kurzen Sprachstrecken angedeutet. Aber alles | |
| bleibt auch brüchig, statt Behauptungen stehen Teststrecken im Raum. Der | |
| Tanz wirkt oft wie eine Option, dass da noch andere Wirklichkeiten möglich | |
| sind. | |
| ## Mit Laborcharakter | |
| Das sei das Wichtige am Theater, sagt Wenderoth, dass es als „Labor | |
| funktioniert, Verhaltensweisen auszuprobieren und zu erkennen, es könnte | |
| auch anders sein“. Dieser Laborcharakter trifft manchmal ganz wörtlich zu, | |
| etwa in dem Stück „Liquids“ aus Hamburg. Flüssigkeiten werden hier | |
| erkundet, auch von den um ein Bassin sitzenden Kindern, die im Nu von | |
| Zuschauern zu Mitspielern werden. | |
| Einem Labor gleicht aber auch die Bühne des Zagreb Youth Theatre in ihrem | |
| Stück über Jugendgewalt „This could be my street“. Menschen werden auf | |
| vereinzelten Inseln aus Requisiten beobachtet, die erst einmal alle | |
| abstreiten, etwas mit der Ermordung eines Schülers zu tun zu haben. Bis man | |
| lernt, aus ihrem Abwehren etwas anderes herauslesen. Ein spannendes und | |
| herausfordernd gebautes Stück. | |
| Was auffällt: Simpel gestrickt ist das Jugendtheater nicht von „Augenblick | |
| Mal“. Dass die Wirklichkeit nicht einfach ist, meint Helmut Wenderoth, | |
| glaubten die Regisseure und Performer eben zu Recht auch den Kindern und | |
| Jugendlichen zumuten zu können. Nicht nur in den Themen, sondern gerade | |
| auch in den offenen Formen. Angst vor Anstrengung darf man da nicht haben. | |
| 23. bis 28. April, [1][www.augenblickmal.de] | |
| 22 Apr 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.augenblickmal.de | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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