# taz.de -- Berliner Festival „Tanz im August“: Die Stille und der Lärm | |
> Stücke von Anna De Keersmaeker und Marcos Morau überzeugten auf dem | |
> Festival „Tanz im August“. Ein Blick auf zwei gegensätzliche Arbeiten. | |
Bild: Musiker und Tänzer bewegen sich in „Vortex Temporum“ von Anne Teresa… | |
Plötzlich ist es wieder da, das geliebte Gefühl: in den Reihen der | |
Zuschauer, die im Haus der Berliner Festspiele den Tänzern von Vortex | |
Temporum zusehen, konzentriert, wach und aufnahmefähig zu sein wie sonst | |
selten. Die Sinne geöffnet, jede Ablenkung weggefegt – ach, könnte man sich | |
mit solch einer Sensibilität, wie sie die belgische Choreografin Anne | |
Teresa De Keersmaeker in ihrer Arbeit mit Tänzern und Musikern auf der | |
Bühne immer wieder herstellt, doch auch durch das eigene Leben bewegen und | |
jeden Moment bewusst wahrnehmen. | |
Doch der Alltag gleicht sehr viel mehr einem Gewebe aus Ablenkungen und | |
Überschreibungen, die, was es zu erkennen gilt, immer wieder entgleiten | |
lassen: so, wie es am Abend zuvor der spanische Choreograf Marcos Morau in | |
seinem Stück „Siena“ in der Schaubühne beschrieben hat. | |
Gegensätzlicher als diese beiden Stücke für eine große Bühne, die zur | |
Halbzeit des Festivals „Tanz im August“ (15. – 30. August) gastierten, ka… | |
Tanz kaum konzipiert sein. Spannend aber und produktiv für das Nachdenken | |
über das eigene In-der-Welt-Sein ist dieser Gegensatz auch, beschäftigen | |
sich doch beide Choreografen mit Strukturen der Komplexität. | |
Marcos Morau arbeitet narrativ. Er überlädt sein Tanzstück mit Geschichten | |
und Bildbeschreibungen, die auf der Bühne erzählt werden oder aus dem Off | |
zu hören sind. Die nehmen den Geist und das Vorstellungsvermögen so sehr in | |
Anspruch, dass die Tanzsequenzen, die mal symbolistisch und/oder | |
expressionistisch sind, mal rein dynamisch strukturiert erscheinen, dann | |
wieder Gemälde zitieren mit Figuren von Matisse oder Michelangelo, oft fast | |
wie ein Dekor im Hintergrund wirken. | |
## Sprachlich hervorgerufene Bilder | |
So wird die Präsenz der Körper immer wieder in Bedrängnis gebracht durch | |
die Macht der sprachlich hervorgerufenen Bilder. Hinzu kommt Musik der | |
Barockzeit, manchmal klagend und zu Herzen gehend, die sich abwechselt mit | |
einem unheimlichen Soundtrack wie aus einem Horrorfilm, und damit ganz | |
unterschiedliche Emotionen in die Szenerie hineinspült. Was dabei an | |
Opulenz entsteht, an sinnlichem Überfluss, ist bestechend, auch wenn | |
„Siena“ letztendlich auf Gefühle der Verwirrung und der | |
Orientierungslosigkeit hinausläuft, die Angst und Traurigkeit im Schlepptau | |
haben. | |
Marcos Morau, 31 Jahre alt, kommt mit seiner Compagnie La Veronal aus | |
Barcelona und gilt als einer der neu zu entdeckenden Künstler, die Vivre | |
Sutinen, Kuratorin von Tanz im August, erstmals nach Berlin eingeladen hat. | |
Sein Stück „Siena“ hat ein Museum als Schauplatz, mit rotem Samt bezogene | |
Bänke vor einem großen Frauenakt. Einmal hört man eine Bildbeschreibung wie | |
von einem Audioguide, die einem schwarzen männlichen Akt von einem | |
afroamerikanischen Maler gilt und jedes Detail des sichtbaren Bildes in | |
eine zeitgenössische Szenerie übersetzt. | |
Oft hört man erzählte Träume, die im Museum spielen und auf die Rückseite | |
der Bilder gelangen wollen, voller Angst, dort dem eigenen Tod zu begegnen. | |
Das sind romantische und surrealistische Blickwinkel, aus denen Morau auf | |
der Textebene auf die Kunst und ihre Formen der Repräsentation blickt. | |
Was sich dazu tänzerisch ereignet, in kurzen und präzisen Bewegungen, | |
scheint dagegen viel schneller getaktet, nach einer anderen Uhr zu laufen. | |
Auch die Bewegungssprache der Tänzerinnen, die eine Art Fechtkleidung | |
tragen, ist eloquent, ein rascher Austausch von Impulsen und Anstößen, der | |
Schnelligkeit der Reaktionen im Fechtsport nicht unähnlich. Manchmal | |
beziehen sich Bewegungssprache und Sprachbilder aufeinander, oft aber | |
laufen sie berührungslos auf parallelen Bahnen. Das erzeugt ein Gefühl von | |
Abwesenheit. Folgt man den Worten, laufen einem die Körper davon, und | |
umgekehrt. | |
## Die Elemente trennen | |
Anne Teresa De Keersmaeker, deren Stücke seit vielen Jahren | |
glücklicherweise immer wieder zum Festival eingeladen werden, geht in | |
„Vortex Temporum“ eher den Weg der Abstraktion und des Weglassens. Der | |
Titel stammt vom gleichnamigen Musikstück des französischen Komponisten | |
Gérard Grisey, von sechs Musikern des Ensembles Ictus live auf der Bühne | |
gespielt. In die ungewohnte Struktur dieses Klangkörpers dringen die Tänzer | |
erst langsam vor, bis sie sich irgendwann von dieser Musik tragen lassen, | |
vertrauensvoll deren Wendungen und Sprüngen folgen und sich ihrer Energie | |
hingeben, wie einem Element der Natur. | |
Aus dem Ungewohnten, Fremden und Sperrigen ist so am Ende etwas geworden, | |
in dem eine vielgestaltige Lebendigkeit geborgen ist, die mal etwas | |
Spielerisches und Leichtes haben kann, dann wieder etwas Entschiedenes und | |
Dringliches. | |
Den Musikern zuhören und zusehen, den Tänzern zusehen und zuhören – De | |
Keersmaeker lässt diese Elemente erst einzeln laufen, bevor sie Musiker und | |
Tänzer zusammenführt. Wie sich die Wahrnehmung des Hörens verändert, wenn | |
jemand dazu tanzt, oder wie anders der Tanz wirkt, lässt man die Musik weg | |
– das durchläuft man bei ihr in einem wohltuenden Parcours zur Schärfung | |
der Sinne. | |
„Vortex Temporum“ endet mit einer Öffnung zur Stille. Man könnte meinen, | |
die Instrumente, Cello und Bratsche, Flöte und Klarinette, atmen zu hören, | |
wie die Luft durch sie durchstreicht, während die Tänzer sich dieser Stille | |
öffnen wie einem unendlichen Raum. Ein Moment, in dem man nichts vermisst, | |
kein Wünschen und kein Begehren mehr stört. Aber man weiß, dass er nicht | |
lange anhalten wird. | |
25 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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