# taz.de -- Belgische Choreografin über das Tanzen: „Es fordert die Schwerkr… | |
> Die Berliner Volksbühne zeigt die „Brandenburgischen Konzerte“ mit Musik | |
> von Bach und mehr als 36 Menschen live auf der Bühne. Ein Gespräch mit | |
> der Choreografin. | |
Bild: Die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker | |
taz: Guten Morgen, Frau De Keersmaeker. Haben Sie heute Morgen schon | |
getanzt? | |
Anne Teresa De Keersmaeker: Nein. | |
Wenn man Ihre Stücke sieht, begegnet einem so viel Anmut, Leichtigkeit und | |
Großzügigkeit, das ist erstaunlich. Und man fragt sich: Woher kommt diese | |
Energie? | |
Ich mag es zu tanzen und ich mag es zu arbeiten. Es gibt so etwas wie | |
Arbeitsfreude. Zu tanzen ist meine Art, in der Welt zu sein, zu denken, zu | |
atmen, zu leben. Ich selbst sehe mich sogar mehr als Tänzerin denn als | |
Choreografin. | |
In Berlin konnte man oft Gastspiele von Ihnen erleben, im Hebbel-Theater | |
oder im Haus der Berliner Festspiele. Jetzt zeigen Sie zum ersten Mal eine | |
Uraufführung an der Volksbühne. | |
Es ist das erste Mal, dass mir ein Berliner Theater eine Koproduktion | |
angeboten hat. Es ist der zweite Schritt einer Kooperation, die die | |
Volksbühne initiiert hat, im Frühjahr haben wir „Work/Travail/Arbeidt“ und | |
„Vortex Temporum“ gezeigt. Die lange Liste der Gastspiele in Berlin seit | |
Ende der achtziger Jahre wurde in der Hauptsache von Nele Hertling und | |
später von Annemie Vanackere am Hebbel-Theater angestoßen. Aber die Bühne | |
dort brachte auch das Problem, zu klein zu sein für manche unserer | |
Produktionen. | |
2017 haben Sie an „Fous de danse“ teilgenommen, der großen Eröffnung der | |
ersten Spielzeit unter dem Intendanten Chris Dercon auf dem Tempelhofer | |
Feld. In der Zwischenzeit hat die Volksbühne viele Erschütterungen erlebt, | |
Chris Dercon und Marietta Piekenbrock mussten gehen. Hat das Ihre Arbeit | |
belastet? | |
Nein, unsere Vereinbarung wurde ja beibehalten. Aber ich bedauere tief, wie | |
die Ereignisse hier gelaufen sind. Aber ich bin nicht in der Position, | |
darüber zu urteilen. Das ist Teil einer größeren Frage, was die Volksbühne | |
heute für Berlin sein soll. | |
Am 12. September wird die Premiere der „Brandenburgischen Konzerte“ in der | |
Volksbühne sein. Es ist Ihre fünfte Arbeit mit einer Komposition von J. S. | |
Bach, Ihre Beziehung zu ihm wurde schon als ein Pas de deux mit Bach | |
bezeichnet. Auf der Bühne wird das B’ Rock Orchestra die Konzerte spielen. | |
Was macht gerade diesen Komponisten so wichtig für Sie? | |
Johann Sebastian Bach ist einzigartig in der Geschichte der westlichen | |
Musik. Ich liebe den Tanz, weil ich ihn für die direkteste Form von | |
verkörperter Abstraktion halte und das ist auch Bachs Musik. Es ist eine | |
Musik, die Klarheit ausstrahlt, in der ganzen Struktur und im Detail ist | |
sie immer extrem rhetorisch. Die Musik wirkt wie eine bewegte Architektur. | |
Es ist wie eine Berührung mit der Unendlichkeit. Bachs Musik ist immer | |
extrem strukturiert, aber nie systematisch. Sie ist äußerst formalisiert | |
und reflektiert zugleich viele Aspekte der menschlichen Erfahrung. Wie | |
Freude, Zorn, Melancholie und Rache. Für mich war das immer eine direkte | |
Einladung zum Tanz. | |
Wenn Sie über die Qualitäten von Bachs Musik reden, wie Klarheit in der | |
Struktur, denken Sie, dass das Eigenschaften sind, die uns heute abgehen? | |
Was können wir von seiner Musik lernen? | |
Bachs Musik reflektiert das Bewusstsein einer anderen Ordnung, die über | |
unsere Wahrnehmung der Dinge hinausgeht. Ich denke, dass selbst Bachs | |
nichtreligiöse, weltliche Musik, wie die „Brandenburgischen Konzerte“, die | |
er in Köthen schrieb, eine tiefe spirituelle Dimension hat. | |
Sie arbeiten in Ihren Stücken oft mit Zeichnungen von geometrischen Figuren | |
auf dem Bühnenboden, die den Tänzern Wege vorzeichnen. Warum sind Sie der | |
Geometrie so verbunden? | |
Geometrie hat eine lange Geschichte, sie beginnt damit, die Erde zu | |
vermessen. Seit ich vor 36 Jahren „Fase, Four Movements to the Music of | |
Steve Reich“ choreografiert habe, eine sehr repetitive Minimal Music, denke | |
ich, dass die Musik der Zeit einen Rahmen gibt, und ich brauche einen | |
Rahmen, wie ich den Raum organisiere. Die Musik hat Muster, so brauchte ich | |
ein räumliches Muster, das mir sagt, wohin es geht. Sich zu drehen war für | |
mich die natürlichste Art zu tanzen. Der Kreis, den ich damals nutzte, ist | |
zugleich die offenste und die geschlossenste Form. Menschen bilden einen | |
Kreis, wenn sie etwas beobachten wollen. Man sitzt im Kreis um ein Feuer. | |
Jeder hat die gleiche Distanz zum Mittelpunkt, es ist eine demokratische | |
Form. Und im Kreis zu tanzen, hat viel mit Kontinuität und Dauer zu tun. | |
Auf einer Linie kommt man zu einem Punkt, an dem man umkehren muss. | |
Aber auch die Spirale taucht sehr oft bei Ihnen auf. | |
Das ist auch eine äußerst basale Form. Sie erlaubt viele Ankerpunkte, im | |
Zentrum, an der Grenze, im Raum dazwischen. Geometrische Muster zu betonen, | |
hat mir von Anfang an geholfen, den Raum zu organisieren. Und Geometrie ist | |
überall präsent, in der Natur, Kultur, Architektur, von Stonehenge über die | |
gotischen Kathedralen bis zum Werk von Le Corbusier. Wir malen eine Spirale | |
am Strand in den Sand, sie ist in der Galaxis und taucht schon in der | |
prähellenistischen Vasenmalerei auf. | |
Aber hat Geometrie auch mit dem Körper zu tun? | |
Natürlich, es geht um Proportionen. Wenn man mit dem Körper arbeitet, geht | |
es auch grundsätzlich um Proportionen, wie zum Beispiel zwischen der Hand | |
und dem Arm. | |
Also ist Geometrie etwas Verbindendes? | |
Ja, zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos. | |
Wenn Sie über Ihre Arbeit reden, klingt das oft sehr analytisch, | |
wissenschaftlich und logisch. Aber das Publikum erlebt während der | |
Aufführungen oft etwas Erleichterndes, als würde eine Last von einem | |
genommen, der Geist befreit. Ist das ein Effekt, den Sie kalkulieren? | |
Nein, so gehe ich das nicht an. Aber ich suche einen Weg zur Schönheit, zur | |
Harmonie, zum Trost. Und ich denke, das alles liegt in der Musik von Bach. | |
Sie reflektiert eine Ordnung, die über uns hinausgeht und die uns bewusst | |
macht, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Aber sie enthält auch ein | |
generöses Bewusstsein von menschlichem Mitgefühl. Wir sind Sterbliche, die | |
Musik ist sehr menschlich und sehr abstrakt. | |
Sie beginnen oft mit Bewegungen, die suggerieren, es wäre einfach, sie | |
nachzuahmen. Von dort aus geht es meist zu sehr komplexen Formen. Meinen | |
Sie das auch als Modell für soziale Organisation? | |
Eine gute Frage. Ich arbeite mit Schichten, beginne mit dem Einfachsten, | |
lege Schicht für Schicht, bis zum Komplexen. Am Anfang steht die Idee der | |
Einheit, dann kommt Polarität hinein, den Raum öffnen und schließen, | |
schnell und langsam sein, Dunkelheit und Licht. Dann kommt Schicht um | |
Schicht, zwischen etwas geschehen zu machen und etwas geschehen zu lassen. | |
In den „Brandenburgische Konzerten“ wird das Gehen eine Rolle spielen. Was | |
bedeutet Gehen für Sie? | |
Es ist die Basis der menschlichen Bewegung, wir haben eine vertikale | |
Aufrichtung des Skeletts und zwei Füße. (Steht auf und geht durch den | |
kleinen Raum.) Es ist die Verbindung zur Erde. Gehen hat mit der | |
Schwerkraft zu tun. Man kann tanzen auch sehen als den Versuch, die | |
Schwerkraft herauszufordern. Gehen organisiert auch meine Zeit. Es ist die | |
einfachste Weise, mein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu | |
organisieren. | |
Die lange Geschichte Ihrer Company ist gespeichert in deren Repertoire. Wie | |
umfänglich ist das und wie halten Sie es lebendig? | |
Das sind um die 50 Stücke. Vor zwei Jahren haben wir begonnen, mit jungen | |
Tänzern Choreografien aus verschiedenen Zeiten wieder einzustudieren. Wir | |
arbeiten nun auf parallelen Spuren: neue Stücke zu entwerfen und | |
Produktionen aus dem Repertoire zurückzubringen. In zwei Wochen geht es | |
wieder los mit „Fase“, und wir haben schon „Rosas danst Rosas“, | |
„Achterland“, „Rain“, „A Love Supreme“, „Verklärte Nacht“ und … | |
wieder auf die Bühne gebracht. | |
„Fase“ und „Rosas danst Rosas“ sind zwei legendäre Produktionen in der | |
Geschichte des zeitgenössischen Tanzes. Es geschieht nicht oft, dass eine | |
Company Choreografien, die 20 bis 30 Jahre zuvor entstanden sind, wieder | |
aufführen kann. Mussten Sie für die finanziellen Möglichkeiten kämpfen? | |
Dafür müssen wir sehr hart arbeiten. Eigentlich haben wir nicht das Geld | |
dafür. So war der einzige Weg, sehr viele Aufführungen zu zeigen und | |
Co-Produzenten zu finden. In diesem Zusammenhang hat uns das | |
Co-Produktions-Angebot der Volksbühne sehr geholfen. | |
Frau De Keersmaeker, ich denke Sie mir als einen glücklichen Menschen. Weil | |
Sie das machen, was Sie machen wollen. | |
(Zweifelt …) Das stimmt … Ich tanze sehr, sehr gern. Seit ich acht Jahre | |
alt war, tanze ich, das ist 50 Jahre her. Es geht um eine natürliche | |
Kommunikation in einem Leben, in dem so vieles delegiert wird an Maschinen. | |
Tanzen ist immer noch das Einfachste, Natürlichste, was der Körper kann. | |
12 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
## TAGS | |
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