| # taz.de -- Uraufführung im Berliner Ensemble: Sich die Welt zu Recht gezimmert | |
| > Keiner ist schuldfrei: Der kongolesische Autor und Regisseur Dieudonné | |
| > Niangouna zeigt sein Stück „Phantom“ am Berliner Ensemble. | |
| Bild: Szene aus „Phantom“ mit dem Besucher (Wolfgang Michael), der Familien… | |
| Wer ist das Phantom im gleichnamigen Stück von Dieudonné Niangouna? Maria | |
| könnte es sein, die die Familiengeschichte als ein unendliches und | |
| weitverzweigtes Schloss beschreibt, durch das sie irrt auf der Suche nach | |
| vergessenen Verwandten, vermoderten Salons und einem Stammbaum, der sie | |
| endlich gesellschaftlich legitimiert. Als arm und gegen den Geruch der | |
| Armut kämpfend beschreibt sich Maria, und die Stirnfalten, die sich dabei | |
| ins Gesicht der Schauspielerin Bettina Hoppe graben, lassen ihre | |
| Bedrückung, Enge und Not spüren. | |
| Aber auch Martha, ihre ältere Schwester, die mit kalter Strenge (Josefin | |
| Platt) das Familienoberhaupt zu sein behauptet, könnte ein Phantom sein. | |
| Denn während sie einerseits eine Ordnung einfordert, die noch den engen | |
| Rollenmustern der 1950er Jahre zu folgen scheint, maßt sich die eben noch | |
| so Rationale plötzlich an, Gott und Schöpfer zu sein und ihre ganze Familie | |
| nur erfunden zu haben. So oder so, fürchten muss man sich vor ihr, und das | |
| tun die Geschwister Maria und Hermann und der Neffe Kevin denn auch. | |
| Nur ein plötzlich auftauchender Besucher fürchtet sich nicht. Er sieht wie | |
| ein Obdachloser aus, auch er ist ein guter Kandidat für das Phantom. | |
| Wolfgang Michael spielt diesen Thomas mit einer unkalkulierbaren Mischung | |
| aus Sanftmütigkeit und Aufdringlichkeit, sich ständig fahrig die strähnigen | |
| Haare aus dem Gesicht schiebend, unter Harndrang leidend und müde. Die | |
| Familie wird ihn nicht los. Er behauptet, Martha zu kennen, aus Afrika, von | |
| einer Kakaoplantage in Kamerun. Martha leugnet, jemals dort gewesen zu | |
| sein. | |
| ## Die Lebenden, die Toten | |
| „Phantom“ erlebte seine Uraufführung im Kleinen Haus des Berliner | |
| Ensembles. Dieudonné Niangouna, Autor, Regisseur und Bühnenbildner des | |
| Familiendramas, zeigt damit zum ersten Mal eine Arbeit in Berlin. 1973 im | |
| kongolesischen Brazzaville geboren, begann er dort vor zwanzig Jahren, | |
| während des Bürgerkriegs, mit einer eigenen Theatergruppe, „Les Bruits de | |
| la Rue“, die bald auch in Frankreich Auftritte hatte. Er hat inzwischen | |
| viele Stücke in französischer Sprache geschrieben, und er kam vor vier | |
| Jahren als Artist in Residence an den Mousonturm in Frankfurt. „Phantom“ | |
| schrieb er für das Berliner Ensemble. | |
| Die Bühne besteht aus Podesten, auf denen die Schauspieler manchmal auch | |
| wie schlafend (oder wie schon gestorben) liegen und in die Höhe schweben. | |
| In den Hintergrund sind die geraden Stämme eines Waldes projiziert oder das | |
| Bild eines Schädels, der einen dunklen Hohlraum bildet. Überhaupt die | |
| Dunkelheit, manchmal geht das Licht aus, und die Schauspieler haben nur | |
| noch Taschenlampen, mit denen sie verwirrt umherlaufen. | |
| Dass man sich in einem Reich zwischen den Lebenden und den Toten bewegt, | |
| dieser Eindruck verstärkt sich mehr und mehr im Laufe der Inszenierung. Mal | |
| wird sie von zerschrammten Klangfetzen europäischer Orchestermusik | |
| begleitet, mal von afrikanischen Gesängen. Nach und nach schälen sich in | |
| der Geschichte wie in der Musik Fetzen einer Vergangenheit der Familie | |
| heraus, die in die Kolonialgeschichte führen. Martha war einmal Sklavin, | |
| eine weiße Sklavin, von einem Unternehmer an einen anderen verkauft. Ihr | |
| Vater war Wilderer, der bei der Jagd nach einem Nashorn umkam. Der Fremde, | |
| Michael, erzählt das, der sich damals in sie verliebt haben will. | |
| ## Das Verwischen der Spuren | |
| Über die Geschichte und ihren möglichen Verlauf aber blendet Dieudonné | |
| Niangouna verschiedene mythische Erzählungen und unterschiedliche | |
| Sprechweisen, die das Geschehen verrätseln und in Sprachbilder von eigener | |
| Dynamik übersetzen. Sie rücken das Verwischen der Spuren an die Stelle der | |
| Suche nach Erkenntnis. | |
| Die Schauspieler, scheint es, haben bei diesem Text allerdings etwas zu | |
| kämpfen mit den Wechseln zwischen einem Setting in kleingeistiger deutscher | |
| Enge, das auch von Rassismus geprägt ist, und der Ebene surrealer Träume, | |
| in der erfundene und verdrängte Vergangenheiten aufeinanderstoßen. Dass sie | |
| manchmal Satz für Satz in den Raum entlassen, als hätten sie kein Bild | |
| davon, wo sie sich befinden, gibt der Inszenierung etwas Sperriges, das | |
| letztendlich aber ganz gut passt. | |
| Das Erstaunliche an „Phantom“ ist, dass Dieudonné Niangouna eine | |
| Geschichte über den Kolonialismus und dessen Verdrängung erzählt, die aber | |
| nicht von Weißen und Schwarzen handelt, sondern von der Zerstörung der | |
| Weißen untereinander. Keiner ist schuldfrei, keiner ist frei von einem | |
| Wahn, mit dem er sich die Welt zurechtzimmert. | |
| 17 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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