# taz.de -- Bilanz der türkischen Proteste: Die Menschen reden miteinander | |
> Innerhalb der säkularen Opposition entsteht seit den Gezi-Park-Protesten | |
> eine neue Bewegung. Sie stellt das Modell des großen Führers in Frage. | |
Bild: Wasserpistolen-Protest gegen die türkische Regierung, bevor die Polizei … | |
ISTANBUL taz | Am frühen Samstagabend war es mal wieder so weit: | |
Wasserwerfer rückten vor, Spezialeinheiten der Polizei schoben ihre | |
Gaskartuschen in die dafür vorgesehenen Gewehre. Nach zwei Wochen relativer | |
Ruhe – nur unterbrochen von einer friedlich verlaufenden | |
Schwulen-und-Lesben-Parade – wurden der Istanbuler Taksimplatz und die | |
angrenzenden Straßen im Stadtteil Beyoglu erneut Schauplatz von | |
Polizeigewalt. | |
Die „Taksim-Plattform“, ein Zusammenschluss von mehr als 80 | |
Bürgerinitiativen, hatte zuvor dazu aufgerufen, den Gezi-Park wieder für | |
die Allgemeinheit in Besitz zu nehmen, der nach den Protesten im Juni | |
gewaltsam geräumt und seither gesperrt war. | |
Rund 10.000 Bürger folgten dem Aufruf – und die Staatsführung setzte | |
Tausende Polizisten ein, die rücksichtslos mit den Wasserwerfern in die | |
Menge preschten und mit ihrem Pfeffergas das ganze Viertel wieder einmal in | |
Atemnot brachte. Pausenlos waren Krankenwagen im Einsatz, etliche | |
Demonstranten wurden festgenommen. | |
Schon in den Tagen zuvor hatte es immer wieder Meldungen über erneute | |
Festnahmen oder Ermittlungsverfahren gegeben. Es traf nicht nur Mitglieder | |
kleiner linker Splittergruppen, die ohnehin im Visier der Polizei sind, | |
sondern auch Twitter-Nutzer, die zum Volksaufstand aufgerufen haben sollen, | |
bis hin zu Anwälten, die Demonstranten bei der Polizei vertreten haben. Die | |
Jagd auf Teilnehmer der landesweiten Protestbewegung machte vor niemandem | |
halt. | |
## Ein neues Selbstbewusstsein | |
„Die ganze Repression nutzt ihnen nichts“, sagt am Samstagabend der junge | |
Türke Can Özalp, der routiniert in einer Seitenstraße am Taksimplatz | |
verschwindet. „Seit Beginn der Proteste im Gezi-Park haben wir ein ganz | |
anderes Selbstbewusstsein“. Und das, glaubt er, „wird uns bleiben.“ | |
Zugleich hätten er und seine Freunde „eine ganz andere Sensibilität“ für | |
die Erwartungen anderer gesellschaftlicher Gruppen, vor allem für die | |
Anliegen der Kurden, entwickelt. „Istanbuler Jugendliche haben sich bislang | |
nicht dafür interessiert, was in den kurdischen Gebieten passierte, das ist | |
jetzt anders.“ | |
Verda Özer, eine Kolumnistin der Zeitung Hürriyet, schrieb unlängst in | |
einer Art ersten Zwischenbilanz: „So viel lässt sich jetzt schon sagen: Die | |
Gezi-Proteste sind ein tiefer Einschnitt auf der Reise der Türkei zu | |
demokratischen Ufern.“ Dahinter steht die weit verbreitete Ansicht, dass | |
die vierwöchigen Proteste, die sich von Istanbul aus in rasender | |
Geschwindigkeit über die ganze Türkei verbreiteten, keine vorübergehende | |
Erscheinung sind, sondern eine ganze Generation prägen werden. | |
In diesen Tagen finden allabendlich in verschiedenen Parks der gesamten | |
Türkei Foren statt, in denen darüber diskutiert wird, wie die Bewegung | |
weitergehen soll. Wer sie besucht, entdeckt eine neue Demokratiebewegung, | |
die sich selbst organisiert und von unten entwickelt. Plötzlich sprechen | |
Leute, die sich vorher untereinander nicht kannten, über alle politischen | |
Probleme, die die Menschen umtreiben: angefangen von der Situation im | |
Stadtteil über den Umgang mit Minderheiten bis hin zu der Frage, wie man | |
die politische Energie in praktischen politischen Einfluss bei Wahlen | |
umsetzen kann. | |
## Partizipation, Toleranz, Respekt | |
Von diesen Foren gehen immer wieder neue Demonstrationen aus – wie vor 14 | |
Tagen, als verschiedene Parkversammlungen sich zu | |
Solidaritätsdemonstrationen mit den Kurden entschlossen, nachdem im | |
Südosten der Türkei ein kurdischer Jugendlicher von der Polizei erschossen | |
worden war. | |
Über allem steht der Wille zur Partizipation in einer Atmosphäre der | |
Toleranz und des gegenseitigen Respekts, den es so vor der | |
Gezi-Park-Bewegung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen und | |
politischen Gruppen nie gegeben hat. | |
Ursprünglich hatten sich die Demonstranten mit der Parole: „Erdogan, tritt | |
zurück!“ nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Daraus hat sich | |
mittlerweile eine Bewegung entwickelt, die ihr Leben selbst in die Hand | |
nehmen will und ihre Erwartungen nicht mehr an Parteien delegiert. | |
Das wäre auch nicht möglich, denn es gibt bislang in der Türkei keine | |
Partei, die diese neue demokratische Kraft repräsentieren könnte. Für die | |
2014 anstehenden Kommunal-, Präsidentschafts- und womöglich auch noch | |
Parlamentswahlen diskutiert man deshalb, unabhängige Kandidaten | |
aufzustellen oder vor Ort den je aussichtsreichsten Gegenkandidaten zur | |
regierenden AKP zu unterstützen. | |
## Folgen des neuen Zeitgeists | |
In der Türkei hat die Macht der politischen Patriarchen einen gewaltigen | |
Knacks bekommen: Das Modell des großen Führers wird durch die – nach wie | |
vor führerlose – Demokratiebewegung erstmals ernsthaft zur Disposition | |
gestellt. | |
Das erste Opfer dieses neuen Zeitgeistes wird wohl die Präsidentschaft von | |
Tayyip Erdogan. Der wollte noch in diesem Jahr eine neue Verfassung | |
verabschieden lassen, die unter anderem das parlamentarische System durch | |
ein Präsidialsystem nach US-Vorbild ersetzen sollte. Mitte 2014 wollte sich | |
Erdogan dann zum neuen, mehr oder weniger allmächtigen Präsidenten wählen | |
lassen. | |
„Das Präsidialsystem“, schreibt Mustafa Akyol, ein Kolumnist mit besten | |
Beziehungen in die Spitze der AKP, „ist wohl vom Tisch.“ Erdogan könne zwar | |
noch Präsident werden, aber nur noch im Rahmen des derzeitigen Systems, das | |
für den Präsidenten vorwiegend repräsentative Funktionen vorsieht. Wie dann | |
die Macht verteilt wird, ist offen. | |
7 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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