# taz.de -- Debatte Chile: Ein Land als Labor | |
> Chile zeigt, was etliche Länder Europas noch erwartet: Eine Gesellschaft | |
> im permanenten Stress, in der die Demokratie nichts mehr wert ist. | |
Bild: Die Profiteure: Ex-Diktator Pinochet im Kreise seiner Lieben. | |
Vierzig Jahre ist es her, dass am Morgen des 11. September 1973 Salvador | |
Allende im Regierungspalast La Moneda in Santiago de Chile seine letzte | |
öffentliche Rede hielt. Sie wurde vom Radiosender Magallanes übertragen. Um | |
sechs Uhr früh hatte sich zuerst die Marine in der Hafenstadt Valparaíso | |
gegen die Regierung des sozialistischen, durch und durch demokratischen | |
Präsidenten erhoben. Als Allende sich wenige Stunden später zum letzten Mal | |
an die Bevölkerung wendet, ist der Befehl zur Bombardierung der Moneda | |
bereits erteilt. Der Putsch, lang hatte er sich angekündigt, ist da. | |
Allendes bewegende Rede kondensiert in wenigen Minuten die große Hoffnung | |
und tragische Niederlage des chilenischen Aufbruchs. Es ist ein Aufbruch, | |
dessen Vokabular und politische Akteure manchem heute fremd erscheinen. | |
Doch das, was vor vierzig Jahren auf der anderen Seite des Erdballs | |
passierte, verweist auch auf das Europa von heute. | |
„Schockstrategie“ ist der Begriff, der das Damals und das Heute miteinander | |
verbindet. Er wurde von der US-amerikanischen Autorin Naomi Klein geprägt. | |
Sie versteht darunter, dass Kriege, Krisen oder auch Naturkatastrophen in | |
den letzten vierzig Jahren in vielen Ländern genutzt wurden, um | |
Gesellschaften zu überwältigen und Formen der ungezügelten Marktwirtschaft | |
einzuführen. | |
Der Putsch in Chile, aktiv gestützt von der US-amerikanischen Regierung und | |
begrüßt vom Ökonomen und Nobelpreisträger Milton Friedman und den „Chicago | |
Boys“, bereitete das Feld für eine perfekte Laborsituation, um ihre | |
neoliberale Wirtschaftsdoktrin zu erproben. | |
## Chicago Boys und die Generäle | |
Und er verläuft extrem blutig: Rund 3.000 Personen werden nach offiziellen | |
Angaben ermordet oder verschwinden, rund 30.000 gefoltert. Eine ganze | |
Gesellschaft wird geschockt – kollektiv und als Individuen auf den | |
Metallgittern von Bettgestellen, durch die Militärs und Geheimdienstler | |
Strom leiten, damit der Mut zur Gegenwehr schwindet. „Die Menschen saßen im | |
Gefängnis, damit die Preise frei sein konnten“, so der uruguayische | |
Schriftsteller Eduardo Galeano. | |
Damals wie heute werden dieselben Medikamente zur „Heilung“ von Krisen | |
verabreicht. So weisen die Maßnahmen, die General Augusto Pinochet unter | |
den Einflüsterungen der Chicago Boys ergriff, frappierende Ähnlichkeiten zu | |
denen auf, die heute den europäischen Krisenstaaten aufgezwungen werden: | |
Staatsbetriebe, kollektive gesellschaftliche Ressourcen und Systeme der | |
sozialen Daseinsfürsorge privatisieren, Löhne und Sozialausgaben massiv | |
reduzieren, die Macht der Gewerkschaften und Beschäftigten beschneiden – | |
damals dramatisch und direkt, heute indirekt und schleichend. | |
Der Diskurs zur ideologischen Legitimierung der Schockstrategien passt sich | |
dabei der jeweiligen historischen und politischen Situation an. Damals ging | |
es um die „notwendige“ Beseitigung des Marxismus und auch des Chaos, das | |
Teile der chilenischen Unternehmer durch Boykotte bewusst herbeigeführt | |
hatten. Vor allem Letzteres lieferte den Militärs die Legitimation für ihr | |
Eingreifen. Heute bedrohen angeblich die öffentlichen Schulden die | |
Gesellschaft. Vorausgegangen ist das Kunststück, die Finanzmarktkrise in | |
eine Staatsschuldenkrise umzudeuten. | |
## Chiles totale Privatisierung | |
In beiden Fällen verteidigt eine ökonomische Elite ihre Privilegien. Im | |
postkolonialen Chile von damals wollte sie nichts von ihrem Reichtum | |
abgeben. Im Europa von heute will sie nicht haftbar gemacht werden für die | |
Verwüstungen, die die Liberalisierung der Finanzmärkte verursacht hat. | |
Chile zeigt dabei, was etliche Länder Europas noch erwartet. Denn hinter | |
den aktuellen „Erfolgszahlen“ des chilenischen BIP verbirgt sich eine | |
sozial versehrte Gesellschaft. In kaum einem anderen Land in Lateinamerika | |
ist die Kluft zwischen Reichtum und Armut so extrem wie in Chile. In kaum | |
einem anderen Land finden sich die Obszönitäten des „Mehr privat, weniger | |
Staat“ so geballt. | |
Hier ist alles privatisiert, teuer und von schlechter Qualität. „Wir sind | |
kollektiv beraubt worden“, sagen viele ChilenInnen und meinen damit ihr | |
(teil-)privatisiertes Renten-, Bildungs- und Gesundheitssystem, ihre | |
Wasser- und Energieversorgung, die Flüsse, die Straßen und den Nahverkehr, | |
die Wälder sowie den größten Schatz des Landes: die reichhaltigen | |
Kupfervorkommen im Norden. | |
Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die bis weit in die Mittelschicht | |
hinein in permanentem Stress lebt, weil sie, in wenig abgesicherten | |
Arbeitsverhältnissen, ständig viel Geld heranschaffen muss, um sich private | |
Leistungen zu erkaufen. | |
## Verloren ist verloren | |
Chile erzählt aber auch davon, dass das neoliberale System an seine Grenzen | |
stößt. Nämlich dann, wenn die Prekarität weite Teile der Mittelschicht | |
erfasst und diese ihre Aussicht auf sozialen Aufstieg enttäuscht sieht, | |
wenn die Erzählung vom Wohl des Wirtschaftsliberalismus nicht mehr | |
verfängt. So brauchten die jungen StudentInnen und SchülerInnen, die erste | |
Generation, die nicht in der Diktatur aufgewachsen ist, ab 2011 nicht lange | |
zu mobilisieren, um über Monate die Straßen und Plätze im Protest gegen das | |
neoliberale Diktat zu füllen. | |
Wahr ist aber auch, dass trotz der hartnäckigen Proteste und alternativen | |
Gesellschaftsentwürfe, die die Regierung bis heute in Bedrängnis bringen, | |
sich so schnell nichts ändern wird. Denn nicht nur Chiles Wirtschaft, auch | |
das politische System wurde ab 1973 radikal umgebaut, um das | |
Pinochet-Experiment abzusichern. | |
Wiederum ergeben sich Parallelen zur heutigen Situation in Europa: | |
Demokratisch nicht legitimierte Institutionen wie die Troika diktieren den | |
Austeritätskurs und setzen Regierungen massiv unter Druck. Auf europäischer | |
und nationaler Ebene werden Mechanismen wie Fiskalpakte und Schuldenbremsen | |
installiert, die den sozial- und wirtschaftspolitischen Umbau Europas | |
zementieren und die nur unter schwierigsten Voraussetzungen wieder gekippt | |
werden können. | |
Was einer Gesellschaft einmal geraubt wurde, erkämpft sie sich so schnell | |
nicht wieder. Auch das lässt sich von Chile lernen. | |
10 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
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