# taz.de -- Bildungskosten in Chile: Pauken auf Pump | |
> Claudio und Nuri Rodriguez aus Santiago haben drei Kinder, die alle eine | |
> gute Ausbildung wollen. Ein echtes Armutsrisiko, selbst in der | |
> Mittelklasse. | |
Bild: Ein heißes Thema für die Präsidentschaftswahl: Studenten bei Protesten… | |
SANTIAGO DE CHILE taz | Claudio Rodriguez biegt von der Avenida in die | |
kleine Seitenstraße. Der Wagen fährt an den hohen Zäunen entlang. Dahinter | |
die flachen Häuser mit Grünstreifen zwischen Hauswand und Zaun. Vor einem | |
der Häuser rollt er aus. Auf dem Vorplatz spielt die kleine Emilia. Sombra, | |
der Hund, begrüßt sein Herrchen. Vor zehn Jahre sind Claudio und Nuri mit | |
ihren Töchtern Camila und Milena hierhergezogen. Die Beziehungen zu den | |
Nachbarn sind gut. Man kennt sich. Als Emilia vor vier Jahren zur Welt kam, | |
haben sie ausgebaut. Jede der drei Töchter hat nun ihr eigenes Zimmer. | |
La Florida beherbergt überwiegend die Mittelklasse. Hier, im Süden der | |
chilenischen Hauptstadt Santiago, leben mehr als 300.000 Menschen. Vor 20 | |
Jahren gab es noch überwiegend Acker- und Grasland. Anfang der 1970er Jahre | |
wurde die erste große Siedlung gebaut. Das war der Startschuss. Und seit | |
vor sechs Jahren die Metro bis nach La Florida verlängert wurde, sind sie | |
hier direkt mit dem Stadtzentrum verbunden. | |
Trotz dieser positiven Entwicklung bestimmt eines der wichtigsten Probleme | |
des Landes auch das Leben der kleinen Familie: die Bildungsreform. Sie | |
dürfte zu einem der dominierenden Themen der Präsidentschaftswahl vom | |
kommenden Wochenende werden. Die anderen beiden wichtigen Themen sind die | |
Steuerreform und die Änderung der Verfassung. | |
Seit 2011 protestieren Chiles Studenten. Die aussichtsreiche Kandidatin des | |
Mitte-links-Bündnisses, Neue Mehrheit, die Sozialistin Michelle Bachelet, | |
hat ihnen einiges versprochen. So sollen beispielsweise nach einer | |
Übergangsfrist von sechs Jahren kostenlose Studiengänge von den | |
Universitäten angeboten werden. Skepsis ist jedoch angebracht. Michelle | |
Bachelet hat in ihrer ersten Amtszeit von 2006 bis 2010 keine grundlegenden | |
Veränderungen durchgesetzt. | |
## Camilas monatliches Studiengeld von 400 Dollar | |
In der Familie aus La Florida studiert Camila – mit 26 Jahren die Älteste – | |
Englisch und Pädagogik an der Universität Playa Ancha in San Felipe, rund | |
100 Kilometer nördlich von Santiago. Sie kommt nur noch am Wochenende nach | |
Hause. Milena, gerade 15 geworden, besucht das katholische Colegio Santa | |
Cruz im Zentrum der Hauptstadt. Die kleine Emilia geht in den Kindergarten. | |
Camilas monatliches Studiengeld von 400 Dollar finanzierte die Familie | |
zunächst zu 100 Prozent über einen Kredit. „Jedes Semester muss die | |
Bedürftigkeit nachgewiesen werden, muss der Kredit neu beantragt werden“, | |
sagt Nuri. Da Camilla aus Nuris erster Partnerschaft stammt, lebt sie ohne | |
väterliche Unterstützung bei der alleinerziehenden Mutter. „Jede Familie | |
muss schummeln, um an eine finanzielle Unterstützung zu kommen.“ | |
Für dieses Semester wurden dennoch nur 95 Prozent als Kredit bewilligt. | |
Seit März müssen sie 20 Dollar pro Monat zuschießen. Dazu kommt die | |
jährliche Matrikelgebühr von 300 Dollar, Ausgaben für Lehrmaterial, | |
Kleidung, Essen und Unterkunft. „Das alles deckt der Kredit nicht ab“, sagt | |
Nuri. | |
Die in der chilenischen Verfassung des Landes garantierte Freiheit der | |
Lehre steht über dem Recht auf Bildung. | |
## Da hat sich der Präsident verquatscht | |
„Bildung ist ein Konsumgut“: Dieser Satz schlüpfte dem chilenischen | |
Präsidenten Sebastián Piñera auf dem Höhepunkt der Studentenproteste 2011 | |
aus dem Mund. Damals gingen Chiles Studierende auf die Straßen und | |
forderten erstmals ein kostenloses Universitätsstudium. | |
Bildung gilt vielen Chilenen wie selbstverständlich als private | |
Angelegenheit. Demnach muss sich der Einzelne oder seine Familie um die | |
Finanzierung kümmern. Auch Claudio hatte das Prinzip lange verinnerlicht. | |
Seine Generation ging für niedrigere Zinssätze auf die Straße. | |
Auch das Haus, in dem sie leben, haben sie mit einem Kredit gekauft. Die | |
Laufzeit beträgt 20 Jahre. „Wir zahlen 7,5 UF pro Monat“, sagt Claudio. | |
Chilenen wissen, wovon er redet. Der Verrechnungsmodus ist eine chilenische | |
Besonderheit. Ende der 1960er Jahre wurde die Unidad de Fomento eingeführt. | |
Die UF ist Währungseinheit, mit der der Peso an die Inflationsrate | |
gekoppelt ist. Kredite werden zwar in Peso getilgt, aber Basis ist die UF. | |
Alle Kredite laufen auf dieser Grundlage. So bleibt die Tilgung in | |
UF-Einheiten konstant, aber der Wert in Peso ist variabel. | |
## Tilgen, tilgen, tilgen | |
Wie jeder Chilene hat Claudio also Erfahrung mit Krediten. Er selbst hat | |
1991 mit dem Studium an der Katholischen Universität in Santiago de Chile | |
angefangen. 40 Prozent der monatlichen Studiengebühr musste er selbst | |
bezahlen, für 60 Prozent gab ihm die Uni einen Kredit. Fünf Jahre studierte | |
er Sozialarbeit. Als er nach dem Abschluss einen Job gefunden hatte, begann | |
er mit der monatliche Tilgung seiner Kreditschulden. „Entweder du legst den | |
ganzen Batzen auf den Tisch oder du zahlst zwölf Jahre lang monatlich 5 | |
Prozent von deinem Einkommen.“ Für Claudio waren das monatlich 100 Dollar. | |
2011 waren die zwölf Jahre um, der Kredit aber noch immer nicht ganz | |
zurückgezahlt. „Nach zwölf Jahren ist Schluss, den Rest schenkt dir der | |
Staat.“ Klingt gut. Doch Claudio hat nachgerechnet. Mit den Zinsen und der | |
ständig an die Inflation angepassten Kreditsumme hat er mehr als das | |
Doppelte zurückgezahlt, was er während der Studienzeit bekommen hat. Und | |
selbst das hat nicht gereicht. Am Ende musste der Staat den Rest | |
übernehmen. | |
Für ein Recht auf Bildung ging auch Camila 2011 auf die Straße. Als | |
Schülerin hatte sie schon 2006 die monatelangen Proteste an den Schulen | |
miterlebt. Damals ging es noch um bessere Ausstattungen der Schulen und um | |
günstige Fahrkarten. Fünf Jahre später fanden sich viele der damals | |
protestierenden an den Universitäten wieder. Sie hatten dazugelernt und | |
forderten die universitäre Ausbildung als staatlich garantiertes und | |
kostenfreies Grundrecht ein. | |
## 22 Prozent ihres Einkommens für die Bildung ihrer Kinder | |
Nach Angaben der OECD geben chilenische Eltern durchschnittlich 22 Prozent | |
ihres Einkommens für die Bildung ihrer Kinder aus. Mehr als doppelt so viel | |
wie in den USA und ein Vielfaches von dem, was europäische Eltern zahlen. | |
Chiles Schulen teilen sich in drei Klassen. Da sind die Privatschulen, bei | |
denen die Eltern die gesamten Kosten tragen, die teilsubventionierten | |
Schulen, die sich über einen Mix von privaten und öffentlichen Geldern | |
finanzieren, und Schulen, die komplett von den öffentlichen Zuwendungen | |
abhängig sind. | |
Nuri und Claudio haben für die 15-jährige Milena den Mittelweg gewählt. | |
„Heute versucht jede Familie, ihre Kinder zumindest in den | |
teilsubventionierten Schulen unterzubringen.“ Das Colegio Santa Cruz im | |
Zentrum der Hauptstadt ist zwar katholisch, hat aber einen ausgezeichneten | |
Ruf und einen guten Mix von Schülern aus den unterschiedlichsten | |
Stadtvierteln von Santiago, sagt Claudio. Dafür zahlt die Familie monatlich | |
120 Dollar, der Staat schießt 80 Dollar dazu. | |
2011 war Milenas Schule zweimal besetzt. Sie selbst war nicht dabei, aber | |
sie geht noch immer auf jede Demonstration. Heute hat die Mobilisierung | |
nachgelassen. Aus ihrer Klasse sind sie zu dritt. Um am Protesttag zu | |
fehlen, braucht sie die Einwilligung der Schule und der Eltern. Wer nicht | |
demonstriert, hat Unterricht. | |
Wenn Claudio morgens aus dem Haus geht, dann steuert er den ersten seiner | |
drei Honorarjobs an. Als Berater ist er bei der Gewerkschaft der | |
Metroangestellten tätig. Danach geht er zu seinem Arbeitsplatz im Instituto | |
de Ciencias Alejandro Lipschutz und abends gibt er Unterricht an der | |
Universität. Damit kommt er auf rund 1.600 Dollar im Monat. Nuri verdient | |
zwar weniger, hat aber eine Festanstellung. Als Leiterin eines kommunalen | |
Zentrums für Kinderrechte verdient sie knapp 1.200 Dollar. Und weil das | |
Zentrum über einen eigenen Kindergarten verfügt, in den die kleine Emilia | |
geht, spart sich die Familie diese Kosten. Monatlich verfügt die Familie | |
über ein Einkommen von 2.800 Dollar. | |
Davon geht die monatliche Rate fürs Haus von 350 Dollar ab. Die Nebenkosten | |
für Strom, Wasser und Telefon machen rund 380 Dollar aus. Das ständige Hin- | |
und Herfahren zwischen den Arbeitsplätzen und der Wohnung kostet 220 Dollar | |
an Benzin. Und damit Emilia nach dem Kindergarten nicht allein zu Hause | |
ist, leistet sich die Familie eine Betreuungs- und Haushaltshilfe für 300 | |
Dollar. So sind schon mal 1.250 Dollar weg. „Vom Einkommen her sind wir | |
Mittelklasse“, sagt Nuri. „Aber wenn einer von uns seinen Job verliert, | |
sind wir unterhalb der Armutsgrenze.“ | |
## Die OP kann sich Claudio momentan nicht leisten | |
Claudio müsste sich eigentlich an der Schilddrüse operieren lassen. Doch | |
die Krankenkasse übernimmt nur die Grundversorgung. Der Eingriff kostet | |
3.000 Dollar, hat ihm sein Arzt vorgerechnet. Dafür müsste er einen Kredit | |
aufnehmen. Seit einem Jahr schiebt er die Entscheidung vor sich her. „Noch | |
belästigt mich die Schilddrüse nicht so sehr.“ | |
Nach der Schule will Milena studieren. In Sachen Finanzierung hat sie sich | |
schon mal schlau gemacht. Wer Kinesiologie studieren will, muss pro Monat | |
700 Dollar zusammenbringen. In vier Jahren wäre es so weit. Dann wird auch | |
Emilia eingeschult. Claudio hat deshalb auch schon mal vorgerechnet. Sollte | |
sich auch unter einer zukünftigen Präsidentin Bachelet nichts wesentlichen | |
ändern, „dann müssen wir 500 Dollar mehr stemmen.“ | |
16 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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