# taz.de -- Wahlkampf in Chile: M wie Michelle | |
> Schon vor der Wahl am Sonntag steht Chiles künftige Präsidentin so gut | |
> wie fest. Die Stichwahl könnte trotzdem spannend werden. | |
Bild: Tanzen für den Wahlsieg: Präsidentschaftskandidatin Michelle Bachelet (… | |
SANTIAGO DE CHILE taz | „Chile de todos“ – in einer Endlosschleife wummert | |
der Wahlkampfsong aus den Lautsprechern. Das übergroße M mit dem Herz und | |
der Präsidentenscherpe in den Landesfarben leuchtet von der Bühne. Der | |
kleine Platz davor liefert den Fernsehkameras Bilder von sich drängenden | |
Massen – als hätte das Wahlkampfteam von Michelle Bachelet Angst gehabt, es | |
kämen zu wenig Anhänger zur Abschlussveranstaltung der aussichtsreichsten | |
Kandidatin für die Präsidentschaftswahl am Sonntag. | |
Und tatsächlich konnten einige der insgesamt neun Kandidaten ihre Anhänger | |
bei ihrem letzten Auftritt per Handschlag begrüßen – nicht aber Bachelet. | |
In den vorderen Reihen stehen viele Ältere. „Ich war schon bei der | |
Abschlusskundgebung 2005 dabei“, ruft die 63-jährige Graciela Cardazo, die | |
mit ihrer Seniorengruppe am Absperrgitter vor der Bühne wartet. | |
Von 2006 bis 2010 war Michelle Bachelet schon einmal Präsidentin. Damals | |
schied sie mit einem Sympathiewert von 80 Prozent aus dem Amt. Nur die | |
Verfassung verbot die sofortige Wiederwahl. | |
„Der Aktuelle war nur ein Übergang für Michelles zweite Amtszeit," sagt | |
Cardazo und hält ihr kleines Michelle-Bachelet-Poster in die Höhe. Sie | |
vermeidet den Namen von Chiles gegenwärtigem rechten Staatschef Sebastián | |
Piñera, der sich gerade wieder auf einen Sympathiewert von 40 Prozent | |
hochgerappelt hat. | |
## Denkwürdiges Frauenduell | |
Dass die 62-jährige Sozialistin Bachelet zum zweiten Mal ins Präsidentenamt | |
einzieht, gilt als sicher. Die Frage ist nur, schafft sie es am Sonntag | |
bereits im ersten Wahlgang, oder muss sie im Dezember in die Stichwahl. | |
Entscheiden wird auch die Wahlbeteiligung. Rund 13,3 Millionen | |
Wahlberechtigte sind erstmals dazu aufgerufen, freiwillig ihre Stimme | |
abzugeben. Seit der Änderung des Wahlrechts Ende 2012 ist die Wahlpflicht | |
abgeschafft. Jedoch stieg die Zahl der Wahlberechtigten von früher | |
lediglich 8,1 Millionen, da der Eintrag in das Wahlregister nun | |
verpflichtend ist. | |
Die Frage ist nur, gegen wen Bachelet gewinnen wird. Die besten Aussichten | |
der übrigen acht Konkurrenten für eine zweite Runde hat Evelyn Matthei. | |
Schafft am Sonntag niemand den Sprung über die 50-Prozent-Marke, dann käme | |
es zu einem denkwürdigen Frauenduell. | |
Bachelet und Matthei sind beide Töchter von Generälen der Luftwaffe. Sie | |
besuchten die gleiche Schule, als die Familien in der Luftwaffenbasis Cerro | |
Moreno lebten, und ihre Eltern kannten sich privat. Doch spätestens mit dem | |
Putsch am 11. September 1973 trennten sich die Wege. | |
Mehr als ein Achtungserfolg ist für die 60-jährige Kandidatin der rechten | |
„Allianz für Chile“ aber nicht drin. Das Bündnis aus sturen | |
Pinochet-Anhängern und modernen Rechten ist in einem desolaten Zustand. In | |
dem Versuch aufzuholen prangerte Matthei die Wahlkampffinanzierung | |
Bachelets an. Diese habe vier bis fünf Mal so viele Finanzmittel zur | |
Verfügung wie sie selbst. „Von welchen großen Unternehmen kommt das Geld?“ | |
Tatsächlich setzen die ökonomisch bestimmenden Gruppen auf den Sieg | |
Bachelets. 20 Jahre lang haben sie gute Erfahrungen mit den | |
Mitte-links-Präsidenten gemacht. Dagegen rollte unter dem gegenwärtigen | |
rechten Amtsinhaber Sebastián Piñera eine noch nie dagewesene Protestwelle | |
durchs Land. | |
## Das Private über allem | |
Jetzt steht Bachelet am Rednerpult. Ihre Rede klebt am Blatt, von dem sie | |
abliest. Mitreißend ist sie nicht. Nur dreimal gibt es richtig Beifall, als | |
sie die wichtigsten Achsen ihres Wahlprogramms verkündet: Bildungs-, | |
Steuer- und Verfassungsreform. | |
Noch immer hat die Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur Chile fest | |
im Griff. Noch immer herrscht die neoliberale Wirtschaftsordnung, die das | |
Private über alles stellt. 20 Jahre waren das Mitte-Links-Bündnis aus | |
Christdemokraten, Sozialdemokraten und Sozialisten an der Macht, bis es | |
erstmals vor vier Jahren von der rechten „Allianz für Chile“ geschlagen | |
wurde. Grundlegende Veränderungen hat es aber in den ganzen 24 Jahren nicht | |
gegeben – auch nicht als Bachelet im Amt war. | |
Cardazo ist dennoch zuversichtlich, dass es diesmal dazu kommt. Nicht weil | |
sich nun auch die Kommunistische Partei zum ersten Mal an dem Bündnis | |
beteiligt. Die Übergangszeit von der Diktatur zur Demokratie sei vorbei. | |
„Die große Mehrheit der Chilenen will endlich die überkommenen Fesseln | |
abstreifen.“ Da ist sie sich sicher. | |
15 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
## TAGS | |
Chile | |
Präsidentschaftswahl Chile | |
Michelle Bachelet | |
Evelyn Matthei | |
Augusto Pinochet | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Doku Chiles Marktwirtschaft: Die ewige Diktatur | |
Pinochet machte den Weg frei, um Chile neoliberal umzumodeln. Die Arte-Doku | |
„Chile oder die Diktatur des freien Marktes“ seziert den Wahnsinn. | |
Homophobes Verbrechen in Chile: Lebenslang für Mörder | |
Nach der Ermordung eines Homosexuellen in Chile stehen die Haftstrafen | |
fest. Ein Anti-Diskriminierungsgesetz wurde nach dem Fall benannt, aber | |
noch nicht angewendet. | |
Bildungskosten in Chile: Pauken auf Pump | |
Claudio und Nuri Rodriguez aus Santiago haben drei Kinder, die alle eine | |
gute Ausbildung wollen. Ein echtes Armutsrisiko, selbst in der | |
Mittelklasse. | |
Präsidentschaftswahl in Chile: Zwei Frauen | |
Die Sozialistin Bachelet hat die absolute Mehrheit verfehlt. Nun | |
entscheidet eine Stichwahl mit der rechten Kandidatin Matthei, wer Chile | |
künftig regiert. | |
Kommentar Wahl in Chile: Die Diktatur wirkt nach | |
Vor der Stichwahl wird sich Chile polarisieren. Zur Disposition steht das | |
eigentliche Erbe der Pinochet-Jahre: die neoliberale Ökonomie des Landes. | |
Präsidentschaftwahl in Chile: Bachelet schafft das Double | |
Die Sozialistin Michelle Bachelet wird wieder Präsidentin. Ihren Erfolg | |
verdankt sie der Schwäche der Rechten. Nicht-WählerInnen sind die neue | |
Mehrheit. | |
Wahlrechtsreform in Chile: Etwas mehr Demokratie | |
Chile hat das Wahlgesetz aus der Zeit der Pinochet-Diktatur abgeschafft. | |
Jetzt können auch kleine Parteien oder Unabhängige einen Sitz erringen. |